Therapie statt Taletten – schmerzkranke Kinder brauchen Hilfe von Ärzten und Psychologen Foto:  

Ständig quälende Schmerzen – daran leiden rund 350 000 Kinder und Jugendliche. Das Stuttgarter Olgahospital bietet als bundesweit zweite Klinik eine stationäre und ambulante Schmerztherapie für junge Patienten an.

Stuttgart - Lara hat Kopfschmerzen. Sie hat diese nicht nur heute, sie hatte sie auch gestern und wird sie auch morgen haben. „Ich habe seit zwei Jahren ständig Schmerzen“, sagt die 16-Jährige. Egal was sie tut, ob sie isst, lernt oder Sport macht: Das wilde Pulsieren hinter der Stirn ist immer da. „An manchen Tagen ist es schwächer, an anderen stärker“, sagt Lara. Aber es hört nie auf.

So wie Lara ergeht es noch rund 350 000 anderen Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie sind chronisch schmerzkrank, das bedeutet: Seit mindestens drei Monaten werden sie tagein, tagaus von Kopf- oder Bauchschmerzen, Migräneattacken oder anderen Leiden geplagt.

Nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft wird aber ein großer Teil von ihnen nur unzureichend behandelt. Experten wie Markus Blankenburg, Ärztlicher Direktor der pädiatrischen Neurologie, Psychosomatik und Schmerztherapie des Olgahospitals Stuttgart sehen das mit Sorge: „Eine frühzeitige Therapie ist wichtig.“ Hat ein Kind ständig Schmerzen, kommt es zu Schulfehlzeiten und zu Beeinträchtigungen im Alltag der Familie. Das kann zu Entwicklungsstörungen und emotionalen Störungen führen, so Blankenburg. Oft tragen die Kinder die Schmerzen noch bis ins hohe Alter.

Es geht zu wie in einer Jugendherberge

Bislang gab es in Deutschland nur eine einzige Einrichtung für chronisch schmerzkranke Kinder. Das hat sich seit Juni geändert: Neben dem Deutschen Kinderschmerzzentrum im nordrhein-westfälischen Datteln hat nun auch das Stuttgarter Olgahospital eine Schmerzstation, in der 16 Kinder und Jugendliche in zwei Gruppen drei Wochen lang therapiert werden können.

So wie Lara. Seit zwei Wochen lebt das Mädchen zusammen mit sieben weiteren jungen Patienten in dem Neubau des Klinikums Stuttgart. Zwar gehört die Station zu einem Krankenhaus, doch ständig umsorgt wird hier keiner: Es gibt feste Therapiezeiten und auch Schulunterricht, ansonsten aber geht hier eher zu wie in einer Jugendherberge. Die Patienten teilen sich zu zweit ein Zimmer. In einem Raum können sie Musik machen, in einem anderen auf dem Sofa lümmeln. Im Esszimmer neben der Gemeinschaftsküche hängt ein Plan, wer gerade dran ist, den Tisch zu decken oder morgens die Brötchen zu holen. Schwänzen gilt nicht, auch nicht, wenn man sich vor Schmerzen am liebsten im Bett verkriechen möchte.

Lara hat sich zu Hause stets die Decke über den Kopf gezogen, wenn es hinter der Stirn wild pochte und sie ihr Umfeld nicht mehr ertrug. Ihre Freunde, ihre Familie, das Leben da draußen – alles war ihr zu laut. „Ich habe mich immer abgeschottet.“ An sie heran durften nur ihre Tiere: die Kaninchen und der Pflegehund, die Fische im Aquarium und das Pflegepferd. Im Klinikum Stuttgart gibt es keine Tiere. Hier ist Lara ein Teil der Gruppe – und muss sich arrangieren. Das ist Teil der Therapie, sagt Blankenburg.

Der Teufelskreis der Schmerzen

Eine Heilung wird es nicht geben. Der Schmerz ist im Gehirn verankert, Nervenzellen haben sich verknüpft, in denen er abgespeichert wurde. Ein Schmerzgedächtnis ist entstanden. Je mehr nun die Aufmerksamkeit auf den Schmerz gerichtet ist, desto mehr verfestigen sich die depressiven Gefühle: „Man fühlt sich hilflos und glaubt, nie ein normales Leben führen zu können“, sagt Lara. Der Körper schüttet Stresshormone aus, die das Schmerzgedächtnis weiter sensibilisieren. Ein Teufelskreis – den die Betroffenen nur durchbrechen, wenn sie lernen, den Schmerz zu kontrollieren. „Wir üben mit den Kindern, ihre Schmerzen in den Griff zu bekommen und ihren Alltag selbst bestimmt zu gestalten“, sagt Blankenburg. „Wichtig ist es daher, zu einer neuen Lebensqualität zu finden.“ Trotz Schmerz.

Lara etwa versucht ihre depressiven Stimmungen zu mindern, in dem sie verstärkt an schöne Dinge denkt, die sie erlebt hat – trotz der Schmerzen. Die gleichaltrige Anastasia, die ebenfalls wegen dauernder Kopfschmerzen behandelt wird, versetzt sich in Gedanken an einen abgeschiedenen Strand. „Hinter mir sonnen sich meine Eltern und im Wasser planschen meine Cousins.“ In anderen Situationen versucht Anastasia ihre Aufmerksamkeit auf ihre Sinne zu lenken: „Ich zähle fünf Dinge auf, die sehe, die ich rieche, die ich fühle und höre.“ Diese Techniken klappen zwar nicht von heute auf morgen, „aber es wird es von Tag zu Tag besser“, sagt Anastasia. Es muss besser werden. Es gibt sonst nichts, was helfen könnte.

Am Wochenende darf Anastasia zum ersten Mal seit Beginn der Therapie die Nacht zu Hause verbringen. Die Ärzte nennen es „den Belastungstest“. Dort soll die Jugendliche ihre erworbenen Techniken im Alltag ausprobieren. „Funktioniert es nicht oder nur schlecht, dann können wir bis zum Ende der Therapie noch herausfinden, was besser helfen kann“, sagt Blankenburg.

Nach der Therapie kommen 70 Prozent ohne Schmerzmittel aus

Was einfach klingt, erfordert die Hilfe von einem Team an Ärzten, Psychologen, Pflegekräften und Erziehern. Auch die Familie der Patienten wird mit einbezogen „Die Eltern müssen beispielsweise lernen, dass ein ständiges Fragen nach dem Wohlergehen den Kindern die Chance nimmt, sich vom Schmerz abzulenken – weil sie ständig dran erinnert werden“, sagt die Psychologin Erika Raab-Schneider, die im Team die Kinder betreut. Andererseits ist es auch falsch, die Schmerzen der Kinder zu ignorieren. „Dann fühlen sie sich nicht ernst genommen.“ Es werden daher Familiengespräche geführt, aber auch die Eltern gebeten, ihre Kinder einen Tag zu begleiten, um zu sehen, wie mit ihnen in der Klinik umgegangen wird.

Studien aus dem Schmerzzentrum Datteln belegen, dass das Therapiekonzept zu funktionieren scheint. „Viele Kinder und Jugendliche haben nach einem Jahr deutlich weniger Schmerzen“, sagt Blankenburg. 70 Prozent der Untersuchten kommen ohne Medikamente aus. Das ist auch Laras Ziel. Dass der Weg dorthin hart ist, weiß sie. „Aber wenn man zwei Jahre lang Schmerzen hat, sich in der Schule und auch sonst kaum auf etwas konzentrieren kann, dann ist jeder Weg recht, der Besserung bringen kann.“