Wilfried Rosendahl, Projektleiter der Mumien-Ausstellung neben einer Mumie eines sieben- bis neunjährigen Jungen aus Südamerika. Foto: dpa

Eine Ausstellung im Reiss-Engelhorn-Museum zeigt mehr als hundert Leichname aus der ganzen Welt. Die Schau rührt an – auch schmerzvolle – letzte Fragen. Sie präsentiert überdies neue Forschungsmethoden.

Mannheim - Es liest sich wie der Drehbuchauftakt eines drittklassigen Horrorfilms: Als bei Sanierungsarbeiten unter der Dominikanerkirche der ungarischen Kleinstadt Vác 1994 das zugemauerte Portal einer Krypta entdeckt wird, ist das, was sich dahinter verbirgt – je nach Sichtweise – ein wahr gewordener Albtraum oder eine wissenschaftliche Sensation: 265 mumifizierte Männer, Frauen und Kinder, die in aufwendig verzierten Särgen in diesem vergessenen Totenreich ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Dass die Körper der Verstorbenen, die zwischen 1731 und 1838 bestattet wurden, erhalten blieben, ist dem Mikroklima in der Krypta zu verdanken: Trockenheit, kaum Temperaturschwankungen und eine stetige Belüftung sorgten dafür, dass die Leichname nicht verwesten. Was den Fund aber einzigartig machte, war die Tatsache, dass die überlieferten Totenregister die konservierten Körper der Anonymität entrissen: Mumien mit Namen und Totenschein.

Geheimnisse der Lebens

In der neuesten Mumien-Ausstellung im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum rieselt spätestens an dieser Stelle auch den kühlsten Naturen zum ersten Mal ein Schauer über den Rücken: Die zwei bekleideten Nonnen aus der Krypta von Vác, die in gedämpft ausgeleuchteten Vitrinen aufgebahrt liegen, tragen die Namen Teréza Sándor und Rozália Tridentin. Die eine starb 1783, die andere 1798.

Programmatisch legt die Ausstellung „Mumien – Geheimnisse des Lebens“ den Schwerpunkt zwar auf die Mumienforschung und ihre wissenschaftliche Bedeutung für unterschiedliche Disziplinen – von der Anthropologie bis zur modernen Medizin. Inszenierte Labore sollen dabei Einblicke gewähren, mit welchen Methoden die Forschung den Geheimnissen der Mumien auf die Spur kommen: Radiokarbondatierung, Isotopenanalyse, Toxikologie, Molekulargenetik oder 3D-Rekonstruktionen.

Doch eigentlich, und davon erzählen auch Terézas und Rozálias Lebensgeschichten, geht es in dieser-Mumien-Ausstellung mit mehr als 100 tierischen und menschlichen „Exponaten“ aus Museen ganz Europas um etwas ganz anderes: „Wir werden hier einbezogen in das Thema Tod und Sterben“, beschreibt es der Museumsdirektor Wilfried Rosendahl.

Und was ist mit der Würde?

Insofern führt der Titel der Schau in die Irre: Die „Geheimnisse des Lebens“ sind hier natürlich Geheimnisse des Todes. Wenn sich der Besucher von Vitrine zu Vitrine durch die stimmungsvoll abgedunkelten Räume bewegt, führt das unweigerlich zu Reflexionen über die letzten Fragen der Existenz: Was verleiht einem Leichnam Persönlichkeit? Wann endet das Menschsein? Ethisch gesprochen: Erlischt irgendwann im biologischen Zersetzungsprozess die menschliche Würde, und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt? Auch für die Museumsmacher sind das wichtige Fragen. Denn mancher Kritiker hält das, was in Mannheim zum wiederholten Mal gezeigt wird, für „Mumienprostitution“. Und auch Besucher der Ausstellung fragen sich schon Mal, wie im Gästebuch zu lesen: „Ist es nicht würdelos, so auszustellen?“

Der Gesetzgeber hilft bei der Frage, ob der Tod im Museum etwas zu suchen hat, nicht weiter. Für das Gesetz sind Leichname Sachen und die Forschung und die Wissenschaft ohnehin frei. Was die Ausstellung schmerzhaft deutlich macht: Auf die Frage, wann die menschliche Würde erlösche, mit „nie“ zu antworten, ist zu einfach. Mit jedem Grad des körperlichen Zerfalls entfernt sich der tote Körper von unserer emotionalen Bereitschaft, ihn noch als menschlich wahrzunehmen: Die lederartigen Reste der niederländischen Moorleichen, die fast einem Kleidungsstück ähneln, wirken auf den Betrachter anders als die erstaunlich gut erhaltenen altägyptischen Mumien mit ihren fast lächelnden Antlitzen.

Wie bei den Mumien aus Vár verleihen auch Kleider, Namen und Schicksale dem Tod noch Spuren eines einstigen Lebens. „Je größer die Ähnlichkeit, umso näher ist uns der Verstorbene“, sagt Rosendahl. Diese Tatsache machen sich auch die seltenen Fälle moderner Mumienkulte zunutze: von Lenin über Mao bis zu den konservierten Päpsten der Neuzeit.

Einige Mumien sind 7000 Jahre alt

Die ältesten Mumien der Ausstellung stammen aus der Chinchorro-Kultur, die im sechsten Jahrtausend vor Christus im nördlichen Chile und im Süden Perus existierte. Wie in Ägypten, so zeigt die Ausstellung, entstanden auch in Südamerika die ersten Mumien auf natürliche Weise unter dem Einfluss günstiger klimatischer Bedingungen. Trockenheiße Wüsten scheinen dem Mumienkult überall auf der Welt Vorschub geleistet zu haben. „Was die Natur vormachte, wollte man irgendwann nachahmen“, erklärt Rosendahl. Ob religiöse Vorstellungen wie in Alt-Ägypten, die für das Jenseits unversehrte Körper verlangten, sich erst entwickelten, weil mumifizierte Leichname gefunden wurden, oder diese die Folge davon waren, ist schwer zu sagen. In Ägypten erlosch der Mumienkult jedenfalls, als sich die Seelen-Vorstellung von Christentum und Islam verbreiteten.

„In uns ringt letztlich immer das Unausweichliche mit dem Möglichen“, sagt Rosendahl. Und in diesem Zusammenhang wagt die sehens- und erlebenswerte Ausstellung auch einen Blick in die Zukunft, die technisch gesehen bereits Gegenwart ist: Wenn die Möglichkeiten der Körperkonservierung heute schon vielfältiger denn je sind – vom Einfrieren über die Plastination bis zur Digitalisierung des Gehirns –, stehen wir dann vor der Renaissance eines modernen Mumienkults, der uns das ewige Leben vorgaukelt? Die Antwort auf die Frage lässt die Ausstellung noch offen.

Konservierte Leichname

Begriff
Das persische Wort mūm und der abgeleitete arabische Begriff mūmiya bezeichnen eine natürliche, wachsartige Substanz. Mineralogisch handelt es sich um Erdwachs, Asphalt oder Bitumen. Die Substanz galt im Orient als kostbares Heilmittel Ägypten
Als Mumien wurden ursprünglich nur die konservierten Leichname aus Ägypten bezeichnet. Heute versteht man darunter alle tierischen und menschlichen Körper, die auch lange nach dem Tod noch Weichteile besitzen. Dieses Gewebe können auf zwei Arten entstehen: künstlich oder auf natürliche Weise. Gründe für die künstliche Mumifizierung sind vielfältig: von der Notwendigkeit, einen Körper für die Aufbahrung und das spätere Begräbnis zu konservieren, bis zum Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod, für das die Körpererhaltung notwendig sei.

Schau
Die Sonderausstellung „Mumien – Geheimnisse des Lebens“ im Zeughaus des Reiss-Engelhorn-Museums in Mannheim ist bis zum 31. März 2019 zu sehen und dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.