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Kritiker warnen vor „schweren Schäden“ im Stadtbild - Stadt betont neue Chancen.

Stuttgart - Die Bauherren und das Aktionsbündnis der Projektgegner haben am Freitag in der Stuttgart-21-Schlichtung über die ökologischen Folgen des Bahnprojekts, den geplanten Tiefbahnhof und die Entwicklungsperspektiven der Stadt auf den derzeitigen Bahnanlagen debattiert.

Nach vier Schlichtungsrunden mit Zahlen, Daten und Fakten zu Reisezeiten, Zugzahlen und Kosten stand am Freitag im Rathaus ein eher „weiches Thema“ im Vordergrund: Wie soll der neue, durch Stuttgart 21 mit Tiefbahnhof und vielen Tunneln erst mögliche Stadtteil aussehen? Und welche Folgen hat er?

Wenn der neue Durchgangsbahnhof in Betrieb ist, was 2020 der Fall sein soll, will die Stadt die alten Gleisfelder als Siedlungsfläche für die nächsten Jahrzehnte nutzen: 100 Hektar stehen zur Verfügung; davon sollen 20 Hektar den Schlossgarten vergrößern. Die Gesamtfläche ist seit 2001 Eigentum der Stadt. Für Baubürgermeister Matthias Hahn (SPD) birgt das Städtebauprojekt Stuttgart21 die Chance, das „Eindringen der Eisenbahn in die Stadt“ mit dem „Zerquetschen“ des Schlossgartens im 18. Jahrhundert rückgängig zu machen. Weil die Stadt die 80 Hektar im Stadtzentrum gewinne, habe sie bereits 1999 im Gegenzug 62 Hektar an potenzieller Siedlungsfläche in den Randbezirken aus den Planungen gestrichen. „Innenentwicklung geht vor Außenentwicklung, das ist auch ökologisch sinnvoll“, formulierte es Hahn. Wie insbesondere das künftige Rosensteinviertel, das beim Nordbahnhof an den Park anschließen soll, einmal aussehen wird, sei offen. „Das ist planerisch noch nicht fixiert“, so Hahn. Impulse verspreche man sich von der soeben begonnenen offenen Bürgerbeteiligung.

„Es wird im Rosensteinviertel keine Ein- und Zweifamilienhäuser, aber auch keine Wohnsilos geben“, betonte Hahn. Das hinter dem heutigen Hauptbahnhof liegende Areal A1, das von der Deutschen Bahn vermarktet und bereits massiv bebaut wird, sei für die neuen Stadtquartiere „kein Maßstab“, betonte Hahn. Die Stadt strebe einen „ökologischen Stadtteil“ mit kleinteiliger, sozial gemischter Siedlungsstruktur an.

Die Projektgegner sehen das komplett anders. Stuttgart21 sei ein „brutaler, nicht wieder gutzumachender Eingriff“ und verursache „schwere städtebauliche und architektonische Schäden“, warnte Peter Conradi. Der Tiefbahnhof entwerte den Mittleren Schlossgarten und beschädige den alten Bonatzbau. Stuttgart habe auch „Besseres verdient“ als das A-1-Areal, kritisierte Conradi. Er richtete außerdem schwere Vorwürfe an den früheren Regierungspräsidenten Udo Andriof, der 2007 – als die Stadt Stuttgart der Bahn Verzugszinsen von 220 Millionen Euro für die Grundstücke erlassen hatte –, seine Pflicht als Kommunalaufsicht verletzt habe. Im Sommer 2010 wurde der 2008 pensionierte Andriof Projektsprecher für Stuttgart21 und die ICE-Neubaustrecke nach Ulm.

Im Gegensatz zu Stuttgart21 verspreche das Alternativkonzept K21 eine „behutsame Stadtentwicklung“, sagte Stadtrat Peter Pätzold (Grüne). Bei K21 würden rund 66 Hektar frei, wovon 30 Hektar dem Park zugeschlagen werden könnten. Roland Ostertag betonte auch „die menschliche Dimension“ von K21, während die Bahn „eindimensionale Ziele“ verfolge.

Tunnel vermeiden Zerschneidung der Landschaft

Christoph Ingenhoven, Architekt des geplanten Tiefbahnhofs, erläuterte die Entwicklungsphasen seines Entwurfs. Beim Architektenwettbewerb 1997 sei ein konventioneller Durchgangsbahnhof skizziert gewesen, der 25 bis 30 Meter hoch im Schlossgarten aufgeragt habe. Sein Entwurf schaffe dagegen die Verbindung von alter und neuer Stadt; außerdem könne man durch das begehbare Dach des Tiefbahnhofs sogar Parkflächen zurückgewinnen. „Nord- und Südflügel des alten Bonatzbaus zu erhalten geht allerdings nicht“, betonte Ingenhoven. Der Architekt sprach ein weiteres Reizthema in der öffentlichen Debatte an: „Wer auf die skulpturalen Lichtaugen des Tiefbahnhofs verzichtet, stellt den Bahnhof auf den Kopf“, warnte Ingenhoven.

Beim zweiten Themenschwerpunkt in der Schlichtung am Freitag, nämlich der Ökologie, sieht die Bahn ihre Hausaufgaben zumindest in der Planung von Stuttgart21 als erledigt an. Für die Natur seien die vielen, wegen ihrer hohen Kosten kritisierten Tunnel „bestens“, erklärte der Rechtsanwalt Josef-Walter Kirchberg für die Bahn. Die Trasse bis Wendlingen eng an der Autobahn werde die weitere Zerschneidung der Landschaft vermeiden.

Im Kernbereich Stuttgart21 habe man in der Planung die Lebensräume bedrohter Tierarten erfasst und für Ausgleichsflächen gesorgt, sagte Kirchberg. Die acht Hektar, in die beim neuen Hauptbahnhof eingegriffen werde, würden durch 14,5 Hektar neuen Park, große Schotterfläche für Insekten, Käfer und Echsen am Parkrand und die Renaturierung eines Bachlaufs im Mussenbachtal ökologisch gleichwertig ersetzt.

Für Fledermäuse und Vögel wolle man im Park Nistkästen aufhängen, kündigte Kirchberg an: „Der Baustopp hat das unterbrochen, vielleicht sollten wir mal darüber reden.“ Die streng geschützten Juchtenkäfer in acht alten Bäumen an der Schillerstraße wolle man umsiedeln. „Dieser Eremit ist aber nicht mehr allein, seit sich Menschen in den Bäumen niedergelassen haben“, kritisierte Kirchberg die Besetzung von Bäumen durch Stuttgart-21-Gegner.

„Stuttgart21 ist ein schwerer Eingriff in die Ökologie der Stadt“, kritisierte Winfried Kretschmann (Grüne). Die heutigen Gleisflächen seien „wichtige Biotope“ und würden beim Bau des Projekts vernichtet. „Die Gleiswüste lebt“, verwies Gerhard Pfeifer auf die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt mit 400 Pflanzen- und annähernd 200 Tierarten. Bei K21 könne man Biotope bis in die Innenstadt hinein erhalten, erläuterte Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS).

Auch die von der Bahn versprochenen 5000 neuen Bäume könnten die Wirkung der 282 großen Parkbäume, die für Stuttgart21 gefällt werden, erst in 30 Jahren ausgleichen, klagten die Projektgegner. Auch die neuen Stadtquartiere sieht man kritisch. „Die Gleise sind eine kühle Oase“, sagte der Stadtklimatologe Jürgen Baumüller. Würden sie bebaut, steige die Temperatur im Talkessel stellenweise um bis zu vier Grad an. Baumüllers Bilanz: „Stuttgart 21 verschlechtert das Stadtklima.“

Die Bahn rechnete vor, dass sich der Mehrausstoß von Kohlendioxid durch die steilere ICE-Neubaustrecke nach Ulm pro Jahr um 10000 Tonnen erhöht. Dem stünden Einsparungen von 177000 Tonnen CO2 im Jahr durch Umsteiger vom Auto auf die Bahn entgegen. Die Rechnung der Gegner, die auch die Emissionen während der zehnjährigen Bauphase berücksichtigen, bezeichnete die Bahn als „hoch unüblich“. Vorstand Volker Kefer sagte: „Die CO2-Minderung ist nicht das einzige Argument für Stuttgart21 – und die Nachteile in der Bauphase gelten auch für K21.“ Schlichter Heiner Geißler fasste die Debatte zusammen: „Beim Thema Ökologie würde ich sagen: Unentschieden.“