Trotz weniger Einsätze im vergangenen Jahr kommen Notarzt und Rettungswagen in Baden-Württemberg häufig später als erlaubt. Kaum eine Region kann die Vorgaben einhalten. Jetzt sollen Reformen helfen.
Stuttgart - Es ist seit Jahren so ein bisschen wie beim Wettrennen zwischen Hase und Igel: Hat der Rettungsdienst in Baden-Württemberg endlich aufgerüstet, ist die nächste Steigerung der Einsatzzahlen schon da. Notärzte und Notfallsanitäter fahren der Entwicklung pausenlos hinterher. Hat man endlich von den Krankenkassen für eine Region mehr Fahrzeuge genehmigt bekommen und womöglich sogar auf dem leer gefegten Markt zusätzliche Mitarbeiter gefunden, ist die Planung schon wieder überholt.
Das zeigt sich selbst dann, wenn es eigentlich Entspannung geben sollte. Im vergangenen Jahr sind die Einsatzzahlen im Land nach stetiger Steigerung erstmals zurückgegangen. 926 000 Fahrten gab es für die Rettungswagen, nach 1,024 Millionen im Jahr zuvor. Notärzte sind in 282 000 Fällen ausgerückt, 13 000 weniger als noch 2019.
Nur ein Corona-Ausreißer
Eine Trendwende ist das freilich nicht: Der Ausreißer liegt an Corona. Wenn viele Menschen während der Lockdowns zu Hause bleiben, nicht zum Sport gehen, nicht zur Arbeit und nicht am Straßenverkehr teilnehmen, passiert eben auch weniger. Und dennoch sind die Bilanzen der Retter landauf, landab schlecht – viel zu oft kommen sie selbst in solchen Zeiten zu spät zum Einsatzort. Und das, obwohl oft jede Sekunde zählt.
35 verschiedene Rettungsdienstbereiche gibt es in Baden-Württemberg. In jedem verhandeln die Rettungsorganisationen und die Krankenkassen direkt über die nötige Ausstattung. Die orientiert sich an den gesetzlichen Vorgaben. Demnach müssen die Retter in 95 Prozent der Einsätze binnen zehn, höchstens aber 15 Minuten vor Ort sein. Das schaffen sie seit Jahren fast nirgends, weil es an Mensch und Material fehlt. Und selbst für das vergangene Jahr liest sich die Bilanz erschreckend: Bei den Notärzten hat nur Mannheim die 95 Prozent erreicht. Bei den Rettungswagen waren es gerade einmal sechs der 35 Bereiche, nämlich Stuttgart, Böblingen, Göppingen, Ludwigsburg, Mannheim sowie der Alb-Donau-Kreis samt Ulm. Viel zu viele Fahrten haben zu lange gedauert – zum Leidwesen der Hilfebedürftigen.
Es fehlt an Mitarbeitern
Das kommt nicht von ungefähr. Denn nicht nur die Einsatzzahlen steigen in normalen Zeiten. Durch einen massiven Mitarbeitermangel bei den Rettungsorganisationen fallen vielerorts regelmäßig Schichten aus, Fahrzeuge stehen. Zudem beobachten die Helfer ein Phänomen, das die Polizei schon länger kennt: Der Respekt vor ihnen schwindet. Zugeparkte Rettungswagen, Pöbeleien, Angriffe und Behinderungen kosten zusätzlich Zeit und Nerven.
Dazu kommt ein weiterer Trend in der Gesundheitslandschaft: Immer mehr Kliniken schließen. Das führt dazu, dass gerade in ländlichen Regionen die Retter am Boden immer häufiger auf verlorenem Posten stehen. Deshalb müssen zunehmend Hubschrauber einspringen. Die Luftrettung verzeichnet denn auch im vergangenen Jahr entgegen dem allgemeinen Trend fast 20 Prozent mehr Einsätze.
Doch was tun? Im zuständigen Innenministerium ist man die ständige Flickschusterei offenbar leid. Deshalb sind zuletzt mehrere Entwicklungen in Gang gekommen, die das Rettungswesen in Baden-Württemberg reformieren sollen. Doch keine davon ist unumstritten. Das zeigt sich bereits beim Gutachten zur Luftrettung, das im vergangenen Jahr vorgestellt worden ist. Die Hilfe aus der Luft soll massiv ausgebaut und umstrukturiert werden. Einige Standorte sollen verlegt werden. Seither wird teils hitzig diskutiert – jede Gemeinde kämpft verbissen um den Erhalt der jeweiligen Luftrettungsstation.
Es wird neue Rettungswachen brauchen
Der größere Schritt steht freilich unmittelbar bevor. Schon Ende des Jahres soll der neue Rettungsdienstplan in Kraft treten. Dann soll für Rettungswagen eine Zwölf-Minuten-Frist gelten statt der bisher angesetzten 15. Kritiker bemängeln, dass man seither gemogelt habe, weil man eigentlich hätte zehn Minuten zugrundelegen müssen. „Die Anforderungen stellen im Vergleich zu den bisherigen Festlegungen eine Verbesserung dar“, sagt dagegen Carsten Dehner, Sprecher des Innenministeriums. Sie seien „nach und nach“ umzusetzen. Dies führe „mittel- und langfristig in einzelnen Bereichen zu mehr Rettungswachen“. Es braucht also noch mehr des knappen Personal und Geldes. Für Notärzte soll die Hilfsfrist dagegen ganz entfallen – auch daran gibt es Kritik.
Um all diese Entwicklungen zu erfassen, unterstützt das Innenministerium ein Forschungsprojekt am Karlsruher Institut für Technologie mit 220 000 Euro. Es ist auf zwei Jahre angelegt und soll umfassend Kriterien zur landesweit einheitlichen Planung von Rettungsdienststrukturen entwickeln. „Wir legen damit einen Grundstein für die weitere Entwicklung der Rettungsdienstlandschaft im Land. Wir wollen den nächsten Schritt gehen“, sagt Staatssekretär Wilfried Klenk (CDU). Und das Rennen endlich gewinnen.