In der vierten Klasse sollten die Schüler auch mit sechsstelligen Zahlen umgehen können. Doch manchen fällt das schwer. Foto: dpa

Wer sich fragt, warum Baden-Württembergs Viertklässler im Bundesvergleich so schlecht abschneiden, sollte mit den Lehrerinnen sprechen. Sie müssen bisweilen Kinder unterrichten, die nicht einmal die Farben voneinander unterscheiden können.

Stuttgart - Als Paula Kramer* am Mittwoch in die Augen ihrer Kolleginnen blickte, sah sie vor allem Tränen. „Das habe ich noch nie erlebt“, erzählt die Grundschullehrerin, „da saßen vier gestandene Pädagoginnen in der Gesamtlehrerkonferenz und weinten, weil wir alle miteinander nicht mehr wissen, wie wir unseren Kindern etwas beibringen sollen.“

Zwei Tage später ist Paula Kramer noch immer erschüttert – weniger weil das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) den baden-württembergischen Grundschulen am Freitag ein besonders schlechtes Zeugnis ausgestellt hat. „Das war zu erwarten“, sagt die leidenschaftliche Lehrerin, die seit 16 Jahren an einer sogenannten Brennpunktschule im Zentrum einer baden-württembergischen Großstadt unterrichtet. „Wirklich schlimm ist, dass es keine Lösung gibt“, klagt die 42-Jährige, „mit unseren Mitteln können wir nur winzige Pflästerchen auf die Wunden der Kinder kleben.“

Das sehen viele Kolleginnen ganz ähnlich, nur sagen dürfen sie es nicht – zumindest nicht offiziell. Von höherer Stelle sei ihnen ein Maulkorb verpasst worden, erklären einige Rektorinnen auf Nachfrage. Ingrid Macher ficht das nicht an. „Das Ergebnis trifft uns voll“, meint die Leiterin der Stuttgarter Rosensteinschule und ist bereit, sich auch mit vollem Namen und Funktion zitieren zu lassen. Zwar sei ihre Einrichtung „nicht der richtige Maßstab: Wir sind sehr gut ausgestattet, auch personell, wir verwalten keinen Mangel“. Aber rund um die Rosensteinschule gibt es auch drei Flüchtlingsheime, von denen kommen etwa 250 Kinder. „Von uns Grundschulen wird die Quadratur des Kreises verlangt“, sagt Ingrid Macher, „und damit kommt man in solchen Erhebungen nun mal nicht auf die ersten drei Plätze.“ Die Misere sei auch nicht die alleinige Schuld der Grundschulen: „Die Probleme beginnen schon viel früher.“

Inklusion und Migration wirken sich aus

Tatsächlich ist die Bestandsaufnahme an der Basis vor allem in Großstädten dramatisch. Von den 23 Kindern in Paula Kramers erster Klasse kommen sieben aus sogenannten Vorbereitungsklassen für ausländische Kinder. Dabei handelt es sich meistens um Flüchtlinge, die traumatisiert und erst seit sehr kurzer Zeit in Deutschland sind. Drei Schüler fallen in die Kategorie Inklusion; sie bedürfen wegen Krankheit oder Behinderung einer besonderen Förderung. Weitere vier Kinder sind Wiederholer; sie müssen die erste Klasse noch einmal machen, weil sie ob ihres unzureichenden Leistungsstands nicht versetzt werden konnten. Und allen gemein ist, dass ihre Wurzeln nicht in Deutschland liegen. „In meiner Klasse haben alle Kinder einen Migrationshintergrund, wirklich alle, hundert Prozent“, sagt Paula Kramer.

Üblich ist das nicht, aber auch nicht so selten wie manche meinen könnten. Nach einer Erhebung des Statistikportals Statista, das Daten verschiedener Markt- und Meinungsforschungsinstitutionen auswertet, lag der Anteil ausländischer Kinder an deutschen Grundschulen im Schuljahr 2015/16 bei 8,4 Prozent. Über mehrere Jahre betrachtet lässt sich ein steigender Trend nachzeichnen: 2013/14 waren es noch 6,6 Prozent, ein Jahr später bereits 7,1. Und doch bilden Zahlen allenfalls einen Bruchteil der Wirklichkeit ab. Denn nicht eingerechnet in die Statistik sind die Migrantenkinder mit deutschem Pass. „Auch in meiner Klasse habe ich mehr als die Hälfte deutsche Staatsbürger“, sagt Paula Kramer, „aber nach einer für alle verständlichen Amtssprache suche ich immer noch.“

Lehrerinnen suchen nach der Amtssprache im Klassenzimmer

Wer unter solchen Voraussetzungen unterrichten soll, muss kreativ sein. „Ich habe mit den Kindern eine Art von Zeichensprache entwickelt und arbeite viel mit Symbolen und Bildern“, erzählt die Lehrerin. Mit drei Schülern, die aus Indien kommen, spreche sie englisch, bei einem Mädchen, das aus Rumänien stammt, werfe sie bisweilen ein Übersetzungsprogramm auf dem Mobiltelefon an.

Trotzdem liegt der engagierten Pädagogin nichts ferner, als mit ihrer Diagnose jenen Politikern Aufwind zu verleihen, die mit einfachen, populistischen Forderungen hausieren gehen. Das Problem, sagt Paula Kramer, sei nicht die Herkunft der Kinder, sondern die Unfähigkeit der Eltern, ihren Töchtern und Söhnen ein vernünftiges Heim zu bieten. Manchmal gelte diese Feststellung zwar auch für die Wohnung: „Wenn die Eltern mit fünf Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung leben, kann Erziehung nicht funktionieren.“ Viel häufiger liege das Problem aber im Kopf der Väter und Mütter – ganz egal, woher diese stammten. „Viele Eltern reden viel von ihren Rechten. Aber es gibt auch Elternpflichten“, sagt Paula Kramer. Diese würden grob vernachlässigt, „wenn die Kinder, mit Tablet und Smartphone ausgestattet, ruhig gestellt werden“.

Diese Fälle kennt Kathrin Grix auch. „Die Umbrüche in der Grundschule sind enorm“, sagt die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats der Stuttgarter Schulen (GEB). Die Schülerschaft sei „extrem heterogen“, und auch das Spektrum der Kinder, die aus dem Kindergarten kommen, sei breiter geworden: „Manche können bereits lesen, andere noch nicht einmal den Stift halten.“

Manchen Kindern fehlt fast alles: Sprache, Bewegung, Motorik

Auch Paula Kramer berichtet von drastischen Begegnungen mit Kindern, denen praktisch alles fehlt: Sprache, Bewegung, Motorik. „Zu uns kommen Leute in die erste Klasse, die nur zappeln, aber weder schneiden noch malen können“, sagt die Pädagogin. Drei Kinder aus ihrer Klasse seien nicht einmal in der Lage, die Farben zu benennen – weder auf Deutsch noch in ihrer Muttersprache.

„Solche Defizite können wir nicht bis zur vierten Klasse aufholen“, sagt Paula Kramer. Insofern könne sie die Ergebnisse der IQB-Studie aus eigener Anschauung bestätigen. Sie und ihre Kolleginnen hätten mit den aktuellen Viertklässlern einen Wiederholungstest geschrieben, um zu prüfen, was sie noch vom Stoff der dritten Klasse wussten. Das Ergebnis sei niederschmetternd gewesen. „Obwohl wir den Test statt wie bisher auf zwanzig Minuten nun auf eine halbe Stunde angelegt haben, hatte am Ende mehr als die Hälfte der Schüler eine Vier – oder war noch schlechter.“

Dass die Eltern trotzdem das Recht haben, ihre Kinder in ein paar Monaten zur weiteren Laufbahn aufs Gymnasium anzumelden, ist eine andere Geschichte.

                        * Name von der Redaktion geändert.