Künstliche Unterwasserwelt: Otto Pienes „Anemones: An Air Aquarium“ (1976) musste nachgebaut werden. Das Plastik war hinüber. Foto: Schirn Kunsthalle/Norbert Miguletz

Plastik hat das Leben in den Sechzigern und Siebzigern bunt und leicht gemacht – auch die Kunst war plötzlich verrückt nach dem Material, das inzwischen, wie man weiß, seine Unschuld verloren hat. Die Frankfurter Schirn erinnert mit einer sehenswerten Ausstellung an die blinde Begeisterung von damals.

Heute kann man sich nur wundern: Warum über einen Strand aus Kunststoffsteinen laufen, wenn es echte Meere mit echten Uferzonen gibt? Die Menschen waren begeistert, als der Kunststoff Einzug in den Alltag hielt. Plötzlich schien das Leben so leicht, bunt und praktisch. Und als einige Künstler 1967 bei einem Happening mit dem Staubsauger Luft in einen Plastikschlauch bliesen, damit er schwebt, da lachten die Menschen begeistert.

 

Die Menschen waren begeistert vom Plastik

So ist er, der verführerische Fortschritt, der glücklich, aber auch blind macht. Wenn man durch die Ausstellung „Plastic World“ in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt streift, sieht man sofort, dass es für viele Künstlerinnen und Künstler einer Offenbarung gleichkam, als Kunststoffe aufkamen.

„Die Zukunft wird vom Kunststoff bestimmt sein“, jubelte der Maler Ferdinand Spindel. Auch César, ein französischer Bildhauer, frohlockte. Er nehme zwei Portionen Material, rühre, gieße – und schon ließen sich tausend verschiedene Formen schaffen.

Man kann heute Kunststoff kaum noch unvoreingenommen betrachten

Heute ist es nicht einfach, Plastik ohne seine Schattenseiten zu betrachten, sich einfach hinreißen zu lassen von dem magisch schillernden Wolkenobjekt aus transparentem Kunststoff, das Berta Fischer über der Ausstellung schweben lässt. Ein Hauch, ein vermeintliches Nichts, von dem man doch längst weiß, dass es eines Tages als Mikroplastik in alle Organismen kriechen wird.

Und auch der 150 Meter lange aufgeblasene Schlauch, mit dem Konrad Lueg in der Frankfurter Galerie Loehr die Menschen begeisterte, wird bis heute nicht vollständig abgebaut sein.

Die Künstlerinnen und Künstler in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren dagegen fasziniert, welche Möglichkeiten ihnen Polyethylen, Polystyrol oder Polyurethan eröffneten. Es gab ihnen ein neues Gefühl von Freiheit und Macht – Macht über die Natur, von der man sich nun meinte unabhängig machen zu können und eben seinen eigenen Strand zu schaffen, wie es Piero Gilardi tat, der Steine, Tierreste und Muscheln aus Polyurethanschaum nachformte.

Auf der Bühne schweben Kissen von Andy Warhol

„I want to be plastic“, sagte der US-Kunststar Andy Warhol. Und als der Choreograf Merce Cunningham in einer Ausstellung die Kunststoffkissen von Andy Warhol entdeckte, dachte er, „dass sie wunderbar auf die Bühne passen würden“. Warhol stimmte zu – und so lagen bei dem Ballett „Rainforest“ 1968 silberne Plastikkissen auf der Bühne. Einige waren mit Helium gefüllt und schwebten, was für das Publikum wie für die Tänzerinnen und Tänzer ein ganz neues Erlebnis war.

Die Frankfurter Schirn wirft Blicke auf verschiedene Aspekte des umfassenden Themas, das sich nicht annähernd in eine Ausstellung pressen lässt. Hier Bilder, bei denen Alu- und Plastikfolie arrangiert wurde, dort sind Wäscheleinen aus Nylon über die Fläche gespannt oder Plexiglasscheiben so lange gebogen und gequetscht worden, bis ein Würfel entstand. Schaumstoff, Styropor, Folie, alles hielt Einzug in die Kunstwelt – und verwirbelte energisch die Vorstellung, was Kunst sein kann.

Geschlechterkampf über die Kunst ausgefochten

Den männlichen Künstlern ermöglichte Plastik eine besondere Form der Aneignung: Auffallend oft wurden in der Zeit nackte Frauen zum Motiv, als wollten die Herren sich ihre Geschöpfe gottgleich erschaffen. So wird der Kunststoff auch zur Waffe im Kräftemessen der Geschlechter. John de Andrea formte eine nackte Frau lebensecht nach. Die österreichische Pop-Art-Künstlerin Kiki Kogelnik hängte aus Folie geschnittene Körper wie Hosen über Kleiderbügel. Ab in den Schrank mit den alten Männerbildern.

Als Francis Alys 2004 in Mexico City zu einer Aktion lud, war das bereits eine Reaktion auf das bittere Erwachen: Ein Putztrupp versuchte die Massen von Plastikmüll zusammenzuschieben. Wenn heute Künstler mit Kunststoff arbeiten, so auch, um ihn zu recyceln – wie Elias Sime. Der Künstler aus Äthiopien verarbeitet Drähte zu Bildwerken.

Die Unschuld ist dahin

So spürt man in der Ausstellung deutlich: Die Unschuld ist dahin. In der Plastikwelt hat sich Bitterkeit breitgemacht – während die damals neuen Materialien einst in einer großen, bunten Party gefeiert wurden. Innovation und Spaß hingen eng zusammen, so auch bei Hans Hollein. Der Architekt erfand 1969 sein „mobiles Büro“, ein Ballon, in dem er mit Schreibmaschine, Skizzenblock und Lineal hockte – während die Außenstehenden sich köstlich amüsierten über den kuriosen Vorläufer des Tiny House.

Plastik altert schlecht

Marode
Kunst ist oft für die Ewigkeit konzipiert – sofern sie nicht aus Kunststoff ist. Einige der Werke in der Schirn sind so marode, dass sie nur in der Transportkiste ausgestellt werden können. Und Otto Pienes begehbare Unterwasserwelt mit schwebenden XXL-Anemonen musste sogar ganz neu hergestellt werden.

Ausstellung
„Plastic World“, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Bis 11. Oktober. Geöffnet Di–So 10 bis 19 Uhr, Mi, Do 10 bis 22 Uhr.