Ansingen gegen den Tod: das spielfreudige Ensemble von „100 Songs“ Foto: Björn Klein

Roland Schimmelpfennigs neues Stück „100 Songs“ im Stuttgarter Kammertheater erzählt von den wenigen Minuten vor einem Bombenattentat – aber auch viel davon, wie Lieder das Leben prägen. Absolut sehenswert!

Stuttgart - Eben noch einen Chopin-Walzer gehört, zum Bahnhof gegangen – und dann ist man tot. Oder stirbt es sich besser mit Iggy Pop im Ohr? Mit den Pixies? Im Radio läuft in jedem Fall gerade „Bette Davies Eyes“, als die Kellnerin Sally eine Tasse fallen lässt, die Schaffnerin pfeift, sich die Türen schließen, aber der Zug nicht wie an tausenden anderen Tagen abfährt. Denn dieses Mal wird eine Bombe explodieren. „Es war, als ob hundert Songs gleichzeitig liefen“, sagt noch einer. Und dann: Stille.

Doch in „100 Songs“, das nun im Stuttgarter Kammertheater Premiere hatte, zögert Roland Schimmelpfennig den Moment des Attentats hinaus. Er hatte beim Schreiben seines neuen Stückes die Anschläge im Hinterkopf, die 2004 in Madrid verübt wurden. In „100 Songs“ scheint die Zeit dagegen eingefroren zu sein, nicht mehr als drei Minuten rückt der Zeiger auf der großen Bahnhofsuhr nach vorn. Drei Minuten, die Schimmelpfennig akribisch wie ein Chirurg seziert, um die Schicksale dieser „ganz normalen Leute“ freizulegen, die der Zufall an diesem Bahnhof zusammengeführt hat. Menschen mit Sorgen, Sehnsüchten – und vor allem Songs, die ihr Leben begleitet haben. In diesen Minuten kurz vor neun Uhr in der Früh präsentiert sich das Leben mit seiner ganzen Kraft und Frische, es bäumt sich förmlich auf, als wolle es gegen den Tod anspielen. 100 Songs, um das Sterben zu verhindern.

Liebeserklärung an das Theater

Roland Schimmelpfennig ist der am häufigsten aufgeführte Gegenwartsautor in Deutschland – zu Recht, wie auch sein neues Stück beweist, das er selbst inszeniert hat. Mit leichter Hand gelingt es Schimmelpfennig in „100 Songs“, große wie kleine Tragödien tragikomisch auszuloten. Dabei ist er nah an der Gegenwart, witzig und immer auch ein bisschen verrückt. Dabei sitzen die sechs Schauspieler zunächst nur auf schlichten Stühlen vor Kleiderhaken, an denen allerhand Kostüme und Requisiten hängen. Denn „100 Songs“ ist auch eine Liebeserklärung an das Theater, das mit ein paar Gesten und dahingeworfenen Sätzen Lebensentwürfe und Schicksale entstehen lassen kann. „Ich will Friseurin werden“, sagt Reinhard Mahlbergund hält ein albernes gelbes Handtäschchen vor die Brust – und hat damit doch schon ein junges Leben skizziert, das von Hoffnung, Aufbruch, Illusionen erzählt.

Die sechs Schauspieler springen ständig in andere Rollen, aber auch der Text wechselt zwischen Drama und Prosa, inneren Monologen und nüchtern-dokumentarischer Beschreibung der Vorgänge. Ein dankbarer Effekt, mit dem das Bühnengeschehen ironisch gebrochen wird. Da sagt Sally zum Beispiel wieder „Und dann fiel mir die Tasse runter“ – mal fällt sie tatsächlich, mal aber auch nicht. Mit beiläufigen Hinweisen und Anspielungen erschafft Schimmelpfennig prägnante Typen, wie man sie zu kennen glaubt, den schwerreichen Senior, die kleine Studentin, die über Theatergattungen plappert, oder den verkaterten Polizisten, der am Vorabend mit seinem Bruder gesoffen und Deep Purple gehört hat. Aber Schimmelpfennig flicht auch raffiniert verschiedene Motive ein – ob es die apokalyptischen Reiter sind, die die Katastrophe ankündigen, oder ob es die Liebe auf den ersten Blick ist, die eben jenes Unheil verhindern könnte. Denn wer weiß, vielleicht schaut der Attentäter noch in die richtigen Augen – und lässt ab von der Tat.

Tolle Schauspieler und kluge Analyse

Die sechs Schauspieler sind großartig – ob es Alexandra von Schwerin als Stripperin aus Schwedt ist oder Katharina Hauter als Sally, die Kellnerin, die in trauriger Müdigkeit etliche Tassen zerspringen lässt. Ihr Lieblingssong ist übrigens „Bette Davies Eyes“ von Kim Carnes. Schimmelpfennig hat die Mitarbeiter des schwedischen Theaters in Örebro, das „100 Songs“ in Auftrag gegeben hatte, nach ihren Lieblingssongs befragt. Herausgekommen ist ein bunter Mix aus Hits und Kultsongs, die für ein Nostalgie geschwängertes Wechselbad der Gefühle sorgen. Dabei verrät sich der Autor aber auch als kluger Soziologe, der zu gut weiß, dass Identität und Lebensstil auch von einem schnöden Partykracher geprägt sein können.