Schausteller, ein Leben lang: Fritz Kinzler ist auf dem Rummel geboren und hat von ihm gelebt.
Stuttgart - Fritz Kinzler ist ein Wasenkind. Ein waschechtes. Auf dem Rummel ist er geboren, auf dem Rummel ist er aufgewachsen, vom Rummel hat er gelebt. Heute ist er 76 und im Ruhestand. Eigentlich. Aber natürlich schaut er beim Volksfest vorbei, was die Kinder so machen. Die sind selbstverständlich auch Schausteller.
Noch ahnt keiner etwas von der Katastrophe. Im Gegenteil. Die Zeiten scheinen besser zu werden. Es gibt wieder Arbeit. Die Leute haben Geld. Und geben es aus. Es ist 1935. Auf dem Neckar lassen die Nationalsozialisten Boote fahren und nennen dies Wassersportausstellung. Eine Leistungsschau samt Brot und Spiele. Nebenan auf dem Cannstatter Wasen wird gegessen, getrunken, gefeiert - und im Kreis gefahren. Die Familie Kinzler hat ihr hölzernes Riesenrad aufgebaut. Das muss ich sehen, denkt Fritz. Und überrascht Mutter Johanna mit seinem eiligen Wunsch, auf die Welt zu kommen. Mitten hinein auf den Rummel. Der ihn nicht mehr loslassen wird.
Bomben hatten auch den Wasen getroffen
76 Jahre später sitzt Fritz Kinzler im Wohnwagen seiner Tochter Patricia. Und blättert in einem proppenvollen Leitz-Ordner, in dem die Geschichte seiner Familie abgelegt ist. Doch hat er dort keine Taufbilder gesammelt, keine Fotos von Hochzeitspaaren, Festen, Urlauben oder Ausflügen. Da posiert keiner vor dem Eiffelturm oder wirft sich in die Brandung. Man sieht den jüngeren Fritz Kinzler beim Jonglieren eines Stahlträgers, beim Einstöpseln eines Schaltschranks, oder beim Aufrichten der Achterbahn, "damals, da ist uns der Kran umgeknickt" , sagt Kinzler. Seine Geschichte entfaltet sich beim Anschauen von Karussells und Achterbahnen. "Meine Frau Monika und ich sind im Lauf der Jahre mit 43 Geschäften gereist", sagt Kinzler. Sogar in New Jersey am Casino-Pier ließen sie ein Karussell kreiseln.
Angefangen hat alles mit seinem Opa Julius Kinzler. 1910 kam er mit einem Pferdekarussell aufs Volksfest. Sohn Robert war natürlich stets dabei. Schon als kleiner Bub. Kaum erwachsen, stieg er ein ins Geschäft des Vaters. 1927 kauften sie ein Riesenrad aus Holz. Es war nicht größer als ein Haus, erschien den Zeitgenossen dennoch riesig. "Die Menschen waren begeistert", sagt Kinzler, "das war etwas ganz Besonderes." Doch schon damals galt auf den Rummelplätzen: Schneller! Höher! Weiter! Man musste die Nerven der Menschen kitzeln, um sie zu locken und Geld zu verdienen. So bauten sie Looping the Loop, eine Schaukel, in der man Kopf stehen konnte.
Als Robert Kinzler aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, stand er vor dem Nichts. Die Alliierten hatten mit ihren Luftangriffen nicht nur Stuttgart zerstört und eingeebnet, die Bomben hatten auch den Wasen getroffen und das Riesenrad und die Schaukel abgefackelt. Fünf Kinder hatte Robert Kinzler zu ernähren, wie alle anderen bekam er 1948 in der Stunde null auch 40 D-Mark Kopfgeld. Er investierte sie natürlich in ein Geschäft.
Schausteller jonglieren mit Millionen
Einmal Schausteller, immer Schausteller. Für ein Karussell reichte es nicht. Doch womit Leute locken? Er dachte an eine Schießbude. Aber die Amerikaner und Engländer wollten, dass die Deutschen nie mehr Gewehre anfassen. "Das galt auch für Schießbuden", erinnert sich Fritz Kinzler, "also haben wir mit Büchsenwerfen angefangen." Und alle mussten mit anpacken. Das war immer das Erfolgsrezept im Familienbetrieb. Zumal auf dem Rummel. "Ich hatte keine Wahl, ich musste mitschaffen. Das haben meine Eltern von mir erwartet", erinnert er sich, "Banker zu werden, hätte ich mir vorstellen können. Aber wir hatten ja eine schlechte Schulbildung, reisten viel, mussten uns alles selbst beibringen."
Banker? Das hört sich für einen Schausteller nach einem absonderlichen Berufswunsch an. Zumal für einen handfesten wie Fritz Kinzler, der weder vor der Stadt und ihren Verkehrsdirektoren klein beigab, noch vor Festwirt und Verbandsvertreter Walter Weitmann kuschte, sich so herzhaft mit ihm auseinandersetzte, dass man sich wegen diverser Beleidigungen vor Gericht wieder traf. Ein Banker mit Ärmelschoner im Büro. So kann man sich Fritz Kinzler schwer vorstellen. Doch Schausteller müssen nicht nur zupacken und reparieren, sondern auch rechnen können: Sie jonglieren mit Millionen. Vor Jahrzehnten schon gab Kinzler für seinen Einer-Looping, eine Achterbahn, 2,5 Millionen Mark aus. Da muss man kalkulieren können, sonst endet die Reise in der Pleite.
Kinzler entrumpelte einen Klassiker
Angst davor hatte Kinzler nicht. Mit seinen Brüdern kauften sie 1950 eine Bahn, über die Go-Karts knatterten. Fünf Jahre später kam das Geschäft Cortina-Bob dazu. "Aus den Lautsprechern kam Rock'n'Roll", weiß Kinzler, "die Menschen standen Schlange, das war der Treffpunkt." 1963 machte er sich mit Frau Monika selbstständig, im Ski-Lift ließen sie die Besucher schweben. Neugierig war er, reiste zwölfmal nach Amerika, zu Zeiten, als die Deutschen nur von Fotos wussten, dass es in New York Wolkenkratzer gibt. Er stieg in einem Vergnügungspark in New Jersey mit ein und brachte immer wieder Neuheiten mit. So wie ein 180-Grad-Kinozelt, wo unter einer Kuppel kurze rasante Filme zum Miterleben gezeigt wurden. "Das war brandneu in Europa", erinnert sich Kinzler. Mit Oscar Bruch betrieb er eine Looping-Achterbahn. Die von Festplatz zu Festplatz reiste. "Da haben alle gesagt, es funktioniert nicht." Einen Freifallturm hatte er auch im Angebot. "Aber das war kein freier Fall", sagt Kinzler, "nur wie ein schneller Aufzug in einem Hochhaus." Deshalb seien alle nur einmal damit gefahren, kribbelte zu wenig. Also verkaufte er ihn nach zwei Jahren wieder.
Geschäftssinn hat er. So entrümpelte er die Wilde Maus, einen Klassiker, eine Achterbahn ohne Looping. Er ließ sie neu bauen, verdoppelte sie quasi, stellte zwei nebeneinander. So konnten mehr Gäste fahren. Aber man konnte sie auch einzeln aufbauen und so auf kleinere Festplätze reisen. "Der Hersteller hat später 55 Stück davon verkauft." Heute reist Sohn Stefan mit der Wilden Maus, Tochter Patrica ist mit dem Breakdance unterwegs, auch Enkelin Laura ist mit im Geschäft.
So kann der Senior "morgens länger schlafen", muss nicht mehr so viel reisen und sagt: "Mir fehlt nix!" Doch nach dem Rechten schauen wird er immer noch. Schließlich ist er ein waschechtes Wasenkind.