Sandra Gerling (35) ist am Schauspiel Stuttgart engagiert. Foto: Andrea Wagner

Uneitel und burschikos: Wie die Schauspielerin Sandra Gerling (35) im Staatsschauspiel Stuttgart auch in rauen Männerrollen überzeugt und warum sie brutale Stücke schätzt.

Stuttgart - Manchmal weiß man schon nach der ersten Szene, das könnte ein guter Abend werden. Weil Bilder entstehen, die bleiben. Weil da jemand besonders interessant dreinschaut oder etwas besonders macht. Wie in Tschechows „Onkel Wanja“ vor über zwei Jahren. Dunkle Bühne, Spot auf eine junge Frau mit langem Haar, der schmale Körper eingehüllt in eine Amerikaflagge. Mit Übermut im Blick und mit Federballschlägern in der Hand musste sie nicht lange suchen, bis sie einen Mitspieler im Publikum fand, der ihr ein paar Minuten beim sportiven Zeittotschlagen behilflich war. Sandra Gerling (35) war das in ihrer Rolle als vom Leben gelangweilte Gutsbesitzerin. Wunderbar, diese lässige Elegie, das leise Trauern über die Sinnlosigkeit ihres Daseins, das sie manchmal hinter behaupteter Heiterkeit zeigte.

Das war bereits das zweite Mal, dass Sandra Gerling die Barriere zwischen Bühne und Zuschauerraum überwand. In ihrer formidablen Zaubershow bei der „Look at me“-Vorstellung zum Intendanzstart von Armin Petras 2013 musste ein Mensch (Oberbürgermeister Fritz Kuhn) beim Buchtrick mithelfen. Sandra Gerling rückt den Zuschauern auch in anderen Vorstellungen gern auf die Pelle, provoziert Reaktionen, vielleicht auch, weil ihr das doch immer noch nicht ganz verloren gegangen ist, was sie nach der Schauspielschule hoffte: etwas verändern durchs Spiel. „Ich saß als Anfängerin in Ensembleversammlungen im Schauspielhaus Bochum da und habe kämpferisch in die Runde gesagt, Mensch, das reicht doch nicht, da muss man doch mehr machen – was wollen wir erzählen?!“ Während Sandra Gerling das jetzt sagt, sitzt sie bei einem Becher Tee im Foyer des Stuttgarter Schauspielhauses und wirkt etwas belustigt über den einstigen Überschwang.

Die Nähe zum Publikum ist Sandra Gerling wichtig

Zwar wollte sie „schon immer“ Schauspielerin werden, zumindest, seit sie denken kann. „Ich habe schon mit drei Jahren Leuten vorgespielt, nur eben erst im Kinderzimmer, nicht auf der Bühne.“ Und ihre Augen leuchten, wenn sie von Erfahrungen während der Schauspielschule in München erzählt, als sie zu Beginn der 2000er Jahre in den Kammerspielen Regiearbeiten von Luk Perceval und Johan Simons gesehen habe oder auch Jossi Wielers Claudel-Abend „Mittagswende“. So enthusiastisch sie über die „tollen Schauspieler“, ihre Lieblingsregisseure der Nouvelle Vague oder Michelangelo Antonioni und Theo Angelopoulos spricht, so wenig idealistisch sei sie nach nun auch schon zehn Jahren Theatererfahrung, was mögliche Weltverbesserung durch Kunst betrifft.

Allerdings: „Mit Themen und Stoffen etwas über die Welt, Zusammenhänge, Menschen zu erzählen, zum Denken und Austausch anzuregen und zu berühren auf verschiedenste Weise, dafür und natürlich noch zu vielem mehr ist das Theater im besten Falle da.“ Und ja, auch die Nähe zum Publikum sei ihr wichtig.

Was nicht heißt, sich partout beliebt machen zu müssen. Wie in dem Stück „Staub“ nach O’Casey in der Regie von Sebastian Hartmann. In einer Szene mit viel Improvisation gab es Zuschauerreaktionen, Buhs. Die Darsteller spielen aufs Land gezogene bornierte Städter und sitzen auf einem Perserteppich, schmauchen Wasserpfeifen und palavern sehr lange. Vor allem Peter René Lüdicke und Sandra Gerling radebrechen in einem schwer verständlichem Dialekt. „Basil, den ich spiele, ist ein ziemlicher Besserwisser. Ich habe seinen Text mit einer Art österreichischem und bayerischen Akzent gesprochen. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Die Melodien dieser Dialekte kann man mit einem Augenzwinkern so schön selbstverliebt und arrogant persiflieren. Mir schien das für Basil sehr passend.“ Mutwillig Leute zu verschrecken, beteuert Sandra Gerling, das sei nicht Wunsch der Spieler gewesen. „Der Regisseur und wir Schauspieler haben in der Arbeit aber mit Freude an Längen gespielt.“

Bei dem Fünfstundenspaß machten viele Zuschauer lange vor dem Schluss schlapp. Dass das so kommen würde, überrascht Sandra Gerling nicht, wie sie sagt, „doch als die ersten schon während unserer Tanzszene zu Beginn gingen, da war ich schon erstaunt“. Die Tanzszene war in O’Caseys Regieanweisungen angegeben, freilich ohne Zeitangabe. In der Inszenierung dauerte sie eine halbe Stunde. Die Fitness hat sie, aufs Fußballspielen mit den Nachbarjungs folgte jahrelang Tennis mit vielen Turnieren, dann Handball, weil sie „keine Lust mehr auf den Einzelkämpfersport“ gehabt habe. Heute fährt sie mit ihrem Mountainbike durch die Stadt.

Im nächsten Antiken-Drama spielt Sandra Gerling den Mutter-Mörder Orest

Sandra Gerlings Ehrgeiz ist sicher ebenso sportlich wie künstlerisch. Denn auch wenn es nicht schön ist, wenn das Publikum Unmut zeigt, ist Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit noch schmerzlicher. Abende, bei denen sie sich schäme, weil in ihren Augen eine Produktion misslungen ist. Sandra Gerling: „Ich habe einen hohen Anspruch an mich selbst und halte es schwer aus, wenn ich das, was ich auf der Bühne mache, schlecht finde. Da brauche ich schon eine Zeit, um mich davon zu erholen.“

Die meisten Arbeiten seit 2013 in Stuttgart und zuvor in Frankfurt, München, Bielefeld, Bochum habe sie aber gerne gespielt. Nach Rollen für Jungschauspielerinnen wie die Julia oder Miss Sara Sampson freue sie sich über die „brüchigen Figuren“. Und Männerrollen, für die sie sicher auch besetzt wird, weil sie niedlich schmollt und mädchenhaft sein kann wie in Zolas „Paradies der Damen“, aber gern uneitel burschikos auftritt und ziemlich barsch röhrt und brüllt, wenn’s sein muss. Keine Frauenrolle spielt sie an diesem Samstag im Schauspielhaus: Im Antiken-Abend „Orest. Elektra. Frauen von Troja“ nach Euripides, Sophokles und Aischylos. Regie führt Stephan Kimmig.

Sie hat nicht die langen Leidensarien der Kassandra, der Hekabe zu lernen. Sie spielt Orest. Der wird von seiner Schwester Elektra genötigt, Mutter und Stiefvater zu töten, weil die ihren Vater auf dem Gewissen haben. Nicht leicht, wieder und wieder das Morden zu proben. „Ich habe mich aber total auf die Arbeit gefreut“, sagt Sandra Gerling. „Das ist ein brutaler, archaischer Stoff. Die Abgründe dieser Familie, der Atridenfluch, der kein Ende nehmen will, ist beängstigend, aber zum Arbeiten aufregend.“

Jede Menge Abgründe auch in Shakespeares Drama „Der Sturm“. Die Schöne als Biest: Sandra Gerling ist Caliban. Ein missgestaltetes Wesen, das für gewöhnlich von Männern gespielt wird. Apart dreckbeschmiert, sabbernd, spuckend, hinkend wirkt sie in ihrem Groll, von Prospero unterdrückt zu werden, anrührend bemitleidenswert. Ein Wesen, das darauf lauert, sich an seinem Peiniger zu rächen. Der auf die Insel verbannte und am Ende eigentlich erlöste Prospero verpasst in Armin Petras’ Inszenierung seine Abreise von der Insel und wird von Sandra Gerlings am Bühnenrand lauerndem Caliban mit viel sagendem Lächeln erwartet. Mit Frösteln erinnert man sich auch noch Wochen nach der Premiere an die Szene. Sie wird einem, wie die heitere Federballspielerin aus dem Tschechow, in Erinnerung bleiben. Manchmal weiß man auch eben erst am Ende eines Abends, wie gut er war.

Info: „Orest. Elektra. Trauen von Troja“. Premiere am 20. Februar, 19.30 Uhr, Schauspielhaus Stuttgart. Es gibt Restkarten. Weitere Termine: 24., 26. Februar. 6., 15., 29. März. 1., 7., 15. April. Sandra Gerling ist außerdem in diesen Stücken zu sehen: „Der Sturm“: 14., 25. März. 16., 21., 25. April. „Tschewengur“: 5. März, 8. April. „August: Osage County. Eine Familie“: 28. Februar, 11. April. „Der Besuch der alten Dame“: 8. März. Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90. www.schauspiel-stuttgart.de