Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Andreas Leupold ist im Ensemble des Stuttgarter Staatsschauspiels der Mann für die starken Nebenrollen. Unberechenbar sanft und seltsam gelassen. Eine Begegnung.

Stuttgart - Es gibt Schauspieler, für die fällt niemals der Vorhang. Selbst wenn sie sich auf einen Tee in der Stadt verabreden, setzen sie sich im Café möglichst unübersehbar hin, zentral, mit dem Gesicht zum Raum. Wenn sie sprechen, dann unüberhörbar mit Aplomb, untermalt von turbotheatralischer Gestik, die man notfalls auf Satellitenbildern erkennen könnte. Sie reden ohne Unterlass, am liebsten voller Bewunderung über und für sich. Die Welt? Eine Bühne!

Keine große Schnauze

Andreas Leupold ist das personifizierte Gegenteil dieser Alltagsrampensau. Irgendwann ist er einfach da, ohne Tamtam schleicht er auf Sneaker ins Café, setzt sich mit dem Rücken zum Raum und flüstert eine Entschuldigung für sein Zuspätkommen, obwohl er fünf Minuten zu früh gekommen ist. Und als ein Großmütterchen mit dem Rollator sich am Eingang müht, ist Andreas Leupold als erster zur Stelle, um ihr die Türe aufzuhalten. Dann kommt das Gespräch erst einmal auf „seinen“ Zweitliga-Verein Union Berlin und dessen Trainer Jens Keller, den der Schauspieler für stark unterschätzt hält, „bloß, weil er keine so große Schnauze hat.“

Ja, recht hat er. Und ja, genau dasselbe hätte der 57-jährige Berliner von sich selbst sagen können. Was aber nicht heißt, dass jemand keine Präsenz hätte, bloß weil er nicht den Brüllaffen gibt. Andreas Leupold kann man gar nicht übersehen, vor allem nicht als Frau. Der Hüne mit den kalthellen Augen gehört zweifellos zu den fotogenen Ensemblemitgliedern in Armin Petras‘ Truppe. Und auch wenn er leise, stets etwas näselnd spricht, kann das trotzdem ausgesprochen sonor klingen, seltsam durchdringend, ja unberechenbar. Als letztens der von ihm hochgeschätzte Regisseur Christopher Rüping eine Drehbuchfassung von Vladimir Nabokovs „Lolita“ am Schauspiel Stuttgart inszeniert, spielt Andreas Leupold einen Humbert Humbert von mehreren. Die Rolle des Professors, der auf eine Minderjährige steht, ist ein Minenfeld voller gefährlicher Klischees, auf dem man als männlicher Schauspieler künstlerisch nur draufgehen kann. Doch Andreas Leupolds Spiel entzieht sich allen klaren Zuschreibungen. Sein Humbert Humbert ist kein Monster, kein Lustmolch. Keiner dieser dampfenden Kindermörder, die ihre unterdrückte Sexualität jeden Augenblick aus dem Käfig ihrer kranken Seele entlassen. Nein, Andreas Leupolds Akademiker ist irgendwann einfach da und nähert sich dem Mädchen, als wäre es das Selbstverständlichste in dieser schrecklich-schönen Welt, in der ein Kind so vielem ausgeliefert ist. Irgendwie sympathisch, dieser Prof, humorvoll, denkt man im Parkett. Und zuckt zusammen. Eine Interpretation, die mindestens irritiert, wenn nicht verstört.

Über die Sozialfürsorge zum Theater

„Ich bin ein großer Freund des Understatements“, sagt Andreas Leupold, während er weiterhin im Café nach Hilfsbedürftigen Ausschau hält. „Wenn etwa viel Pathos im Text ist, muss man sich zurücknehmen.“ Understatement? Im Englischen versteht man unter diesem Begriff vor allem, sich angesichts einer unangenehmen Situation weniger dramatisch auszudrücken, als man es erwarten könnte. Die Untertreibung ist allerdings ein Stilmittel, das im zeitgenössischen Hochdruck-Theater, wo das Hysterische und Irre kultiviert wird, praktisch ausgestorben. Dass diese Besonnenheit in allen Lagen möglicherweise etwas mit seiner beruflichen Sozialisierung in der DDR zu tun haben könnte, ist Andreas Leupold wohl bewusst. Wie nur wenige seiner Kollegen hat er erst einmal etwas anderes gelernt als die Schauspielerei. Und zwar einen Helfer-Beruf: „Sozialfürsorge“, antwortet der Quereinsteiger lächelnd, der im Prenzlauer Berg geboren und ausgewachsen ist, „als der noch kein Schickimicki-Bezirk war“. Andreas Leupold verdient sein Geld also bei der Fürsorge in Ost-Berlin, nachdem er an der so genannten Fachschule für Gesundheits- und Sozialwesen in Potsdam ausgebildet wurde. Für die Universität bekam er wegen seiner ablehnenden Haltung zum Militärdienst keine Zulassung. Ob dieses Wissen eine gute Vorbereitung für die spätere Theaterarbeit war? „Das Studium war überhaupt nicht hilfreich“, sagt Andreas Leupold abwinkend. „Man war darauf gebrieft, Konflikte zu kitten. Das ist bei Stückproben erst mal nichts.“

Konflikte auf Proben nicht entschärfen, sondern ausleben - wie fruchtbar das fürs Theater sein kann, lernen angehende Schauspieler auf den Schauspielschulen. Andreas Leupold ist aber ein ausgewiesener Problemlöser und hat statt einer Schauspielklasse nur einen fotografierenden Kumpel, für den er – bei diesen Augen kein Wunder! - neben seiner Arbeit mit Kranken und Bedürftigen nach Feierabend Modell steht. Und dennoch: Über die Fotografie findet er zum Theater, Andreas Leupold übernimmt kleinere Rollen, wird Ensemblemitglied in Anklam, wechselt 1994 nach Nordhausen ans Theater, wo er den heutigen Intendanten des Stuttgarter Schauspiels Armin Petras kennenlernt. Es folgen die Stationen Kassel, Frankfurt und schließlich das Maxim Gorki Theater in Berlin. Das nennt man wohl: Karriere. Und das, obwohl Leupold zumeist für die starken Nebenrollen gebucht wird.

Ein Freund, ein guter Freund

Andreas Leupold nimmt’s gelassen, arbeitet mit Regie-Stars wie Sebastian Hartmann und Alvis Hermanis. Und immer wieder mit dem Freund Armin Petras. Das bleibt auch so, als dieser sich als Chef des Maxim-Gorki-Theaters in Richtung Stuttgart verabschiedet und Andreas Leupold nicht zweimal bitten muss. Der ist 2013 gerade Vater geworden, mit der Schauspielerin Abak Safaei-Rad hat er einen kleinen Sohn namens Henry. Der ist mittlerweile eine Schwabe geworden. „Ein süßer Knopp“, schwärmt sein Vater. „Veschper, das sagt er schon. Und isst halt wie alle Kinder hier am liebsten Brezeln.“

Andreas Leupold fühlt sich in Stuttgart sichtlich wohl. Das hiesige Publikum freut sich auf seine Kunst der Untertreibung in Inszenierungen wie „Unterm Rad“ oder „zeit zu lieben zeit zu sterben“. Apropos: Nachdem bekannt wurde, dass der Intendant das Haus verlassen wird, macht sich auch der Freund so seine Gedanken. Zeit zu lieben, Zeit zu gehen? „Wenn Armin Petras hier verlängert hätte, wäre es auch gut gewesen“, bekennt Andreas Leupold. Und macht aus dem dräuenden Abschied, wie es seine Art ist, kein Drama. „Muss man mal gucken, was Armin macht. Bis dahin genießen wir noch die Zeit in Stuttgart.“