Julischka Eichel und Peter Jordan in Fritz Katers „zeit zu lieben zeit zu sterben“ in Stuttgart Foto: Bettina Stöß

Ein Abend wie ein tolles Popkonzert ist Antú Romero Nunes’ Inszenierung von Fritz Katers Theaterstück „Zeit zu lieben Zeit zu sterben“ im Schauspielhaus Stuttgart.

Stuttgart - Männer, Frauen, eine junge Dame mit Mikrofon stehen am vorderen Bühnenrand, hinter ihnen auf einem Podest Jungs mit Gitarre, Keyboard und Schlagzeug. Sie alle agieren vor einer imposanten Wand aus Scheinwerfern.

In weißen Unterhemden und T-Shirts zu schwarzen Hosen und Röcken sehen sie aus wie eine – um Girls erweiterte – Boyband. Robbie Williams’ Combo Take That posierte in den 1990ern genau so gekleidet. Womöglich eine Jugend-Musikerinnerung des 1983 in Tübingen geborenen Regisseurs Antú Romero Nunes, der damals ein Teenie war. Die Einheitskluft erinnert natürlich auch an repressive Orte jeglicher Art – und an das seine Bürger in sozialistische Einheitlichkeit hineinwünschende und zwingende Land, in dem das Stück dieses Abends spielt: die DDR.

2003 wurde Fritz Katers Stück „zeit zu lieben zeit zu sterben“ von Armin Petras am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt. Ein Riesenerfolg. Die Produktion wurde zum Theatertreffen Berlin eingeladen, Kater erhielt vom Fachblatt „Theater heute“ die Auszeichnung als Autor des Jahres.

2012 inszenierte der damals 27-jährige Regisseur Antú Romero Nunes das dreiteilige Werk am von Petras geleiteten Berliner Gorki-Theater. Jetzt also die Übernahme ans Schauspiel Stuttgart: Die Schauspieler, die bei der Premiere am 22. Dezember auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses stehen, wirken sehr elastisch. Sie nehmen keine feste Position ein, sie wirken frei. Noch ist alles möglich. Die Live-Musik, die Band, das Licht, der Bühnennebel bewirken, dass sich der Zuschauer in einem Popspektakel wähnt. Bilder setzen die Erinnerungsmaschinerie an eigene Konzerterfahrungen in Gang, während die Schauspieler sich den „A“ genannten Teil des Stückes – ein mäandernder Dialog – teilen. Sie werfen sich Wörter wie Bälle zu, einer beendet den Satz des anderen, Männer spielen Mädchen, Frauen spielen Jungs. Angebereien werden durch ironische Blicke der anderen kommentiert, Pointen von einem Tusch begleitet.

Grandios: Die Schauspieler Johann Jürgens und Svenja Liesau

Man bekommt wundersam mitreißend, lässig die Geschichte einer Jugend präsentiert, die in der DDR spielt und doch überall stattfinden könnte. Erwachsenwerden, Schulausflüge, Liebeskummer. Alle reden durcheinander, alles fließt. Dank der Gefühlsverstärker-Musik und der Tanz-Choreografien sowie der mit Inbrunst geschmetterten Songs. Heiß und kalt läuft es einem über den Rücken angesichts nassforscher Fummelgeschichten, die pubertär unverfroren oder, wie von dem jungen Ensemblemitglied Christian Czeremnych, betont ruppig erzählt werden. Und manchmal auch, wie von Susanne Böwe, ganz zart. Sie interpretiert schöne Katersätze und schwärmt sanft, dass ein Mädchen „riecht wie ein riesiges Blumenfeld“. Heiterkeit, Tränen, großes Theater.

Irgendwann greifen aber doch nicht nur lästig blöde Lehrer (grandios: Johann Jürgens und Svenja Liesau), sondern auch die Politik in die Lebensentwürfe ein. Man merkt, es ist nicht mehr alles möglich, wenn Worte wie Ausreiseantrag und Gefängnis den Schicksalen von Kathrin, Maria, Hans oder Ralf besondere Dramatik verleihen.

Nunes nimmt den Ost-Stoff schon als historisch, geht zu Recht davon aus, dass der Zuschauer die Übersetzungsleistung ins Allgemeingültige selber leisten kann.

Antú Romero Nunes inszeniert wunderbare Szenen

Keine Hauptrollen bisher; allerdings kann sich im zweiten, aus Dialogen bestehenden Teil der phänomenale Peter Jordan in Szene setzen. Als Hans zieht er sich eine blaue Trainingsjacke über und versucht als cool verklemmter Junge, lustige Schlendrian-Posen inklusive, erwachsen zu werden. Julischka Eichels Adriana macht ihm charmant Avancen und fragt verzweifelt: „Verstehst du mich nicht, oder bist du wirklich so?“, während Jordan sich nach der verpassten Knutsch-Gelegenheit an den Kopf haut. Und später mit dem Freund (Andreas Leupold) seiner Mutter reichlich angeschickert erklärt, er werde Frauen ganz abschwören.

Wunderbar auch die Szene, in der Julischka Eichel und Peter Jordan pantomimisch ein ganzes Leben darstellen – Kinder bekommen und verlieren, sich scheiden lassen, wieder zusammenfinden, sich tattrig am Stock gehend zoffen, bis sie sterben.

Die Band fährt in diesen Szenen auf ihrem Podest weiter nach hinten. So können die Schauspieler auf der Drehbühne agieren. Auf der Stelle laufend, erzählen sie auch davon: vom unerbittlichen Abrollen der Zeit, von verpassten Chancen, von unwiederbringlich glücklichen Momenten. Dazu erklingen alte Hits von Neil Young, Deep Purple, die Erinnerungen wachrufen. Wie beim Proust’schen Madeleines-in-den-Tee-Tauchen werden vergangene Gefühle plötzlich gegenwärtig.

Zu Rio Reisers „Halt dich an deiner Liebe fest“ verlassen die Schauspieler die Bühne, animieren das Publikum zum Mitsingen. Doch so harmonieselig kann der zweistündige Abend nicht enden. Den dritten Teil, den Monolog „C – eine liebe/zwei menschen“, übernimmt Robert Kuchenbuch allein, ganz ohne Musik. Die Sängerin Lisa Marie Neumann sitzt im Hintergrund als schweigende Geliebte, Robert Kuchenbuch – starre Haltung, grimmige Verzweiflung – beschwört eine tragische Liebe.

Der mutige Regisseur Antú Romero Nunes scheut kein Pathos. Er zeigt Menschen, deren Sehnsucht nach Freiheit, nach Leben heftig und mitreißend ist. Ein Abend, der bei aller Tragik stark macht und glücklich.

Termine: 30. Dezember; 10., 15. Januar; 8., 12. Februar. Karten: 07 11 / 20 20 90. www.schauspiel-stuttgart.de