Rita McBride: „Mid Rise Automobile“ (1994). Foto: © Kunstmuseum St. Gallen

Im Jahr 2050, so eine Prognose der Vereinten Nationen, werden drei Viertel der Weltbevölkerung in Stadträumen leben. Eine gewaltige Herausforderung in vielen Facetten. Wie reagieren Künstler auf die Frage des Urbanen? Das ist das Thema einer Schau in St. Gallen.

„Nenn mich nicht Stadt!“, der Titel der Ausstellung, stammt von einem großformatigen Gemälde von Franz Ackermann (geboren 1963 in Neumarkt St.Veit), das dem Betrachter nicht weniger Raum zur Deutung lässt als der seltsame Imperativ selbst. Doch lohnt nicht allein das Thema der Schau, der weltweit galoppierende Wandel urbaner Verdichtungsräume, den Besuch der Schau in St. Gallen. Auch der Ort der Veranstaltung, die auf der Nordseite des Bahnhofs befindliche Lokremise, verdient Interesse.

Die einst größte Schweizer Ringremise, in der mehr als 20 Lokomotiven Platz fanden, beherbergt seit ihrer Wiedereröffnung im Jahr 2010 zwei Theaterbühnen, ein Kino und ein Restaurant. Zudem bleiben 800 Quadratmeter Fläche zur Präsentation von Kunst. Damit ist die Lokremise ein eigenständiger Satellit des Kunstmuseums St. Gallen geworden, der mit spektakulären Auftritten von John Armleder, Norbert Möslang, Tatsuo Miyajima und der Ausstellung „Human Capsules“ in kurzer Zeit Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

Als Beispiel urbanen Wandels und neuer Nutzung alter Bausubstanz liefert die Lokremise samt ihrer Umgebung selbst ein Beispiel für das ebenso aktuelle wie ausufernde Thema globaler Stadtentwicklung. Den unmittelbarsten, weil lokalen Bezug darauf nimmt Katalin Deér (1965 geboren in Palo Alto) mit skulptural einzementierten Aufnahmen aus der Umgebung der Lokremise.

Dem ewigen Strom urbaner Geschäftigkeit und Bewegung kommt Beat Streuli (geboren 1957 in Altdorf) aus der Perspektive des Passanten am nächsten. Als einer unter ihnen erhascht er mit dem Teleobjektiv anonyme Porträts, teilt indes auch die Wahrnehmung der Leute in Gestalt von Werbetexten, Verkehr, Schaufensterauslagen, Spiegelungen oder baulichen Einzelheiten aus nächster Nähe. „Next“ heißt die monumentale Fotocollage. Den flüchtigen Strom hält symbolisch der „Roadblock“, die Straßenabsperrung von Fabrice Gygi (geboren 1965 in Genf), auf, der die autoritativen, die Bewegungsfreiheit der Bewohner rigide einschränkenden Aspekte von Baumaßnahmen in den Blick nimmt.

Bewusst sucht die Ausstellung, so Kurator Konrad Bitterli, keine Antworten auf die Fragen oder gar Probleme, welche die Dynamik weltweit wuchernder Agglomeration aufwirft. Vielmehr soll sich der Besucher eingeladen fühlen, „das Thema Urbanisierung gleichsam modellhaft zu erleben.“ Den akustischen Hintergrund dafür steuert Norbert Möslang (geboren 1952 in St. Gallen) mit Geräuschen bei, die während sonntäglicher Ruhe in St. Gallener Bahnhofsnähe hörbar sind: Lautsprecheransagen, Gesprächsfetzen, Geräusche öffentlicher Nahverkehrsbahnen, Automotoren.

„Jede Mehrheit hat mal als Minderheit begonnen“

Zwar nicht minder vertraut, in ihrer Teilnahmslosigkeit aber deprimierend muten die Schweizer Neubausiedlungen, Vorgärten, Parkplätze und Zebrastreifen an, die Peter Fischli (geboren 1952) und David Weiss (1946–2012) schon vor 20 Jahren in vermutlich nicht einmal polemischer Absicht aufgenommen haben. Dahingegen spielt die Fotoserie von Jonathan Monk (geboren 1969 in Leister), „None of the Buildings of the Sunset Strip“ überschrieben, ironisch auf „Every Building on Sunset Strip“, die Edition von Ed Ruscha von 1969, an, dokumentiert aber nur Lücken in der Bebauung, Kreuzungen, Seitenstraßen, Sackgassen oder Parkplatzzufahrten. Verblüffend, wie radikal der Perspektivwechsel der Aura der berühmten Straße den Garaus macht.

Dem sozialen Aspekt des Miteinanders verschiedener Ethnien in Ballungsräumen widmet sich ein Zeitungsstapel von Andrea Geyer (geboren 1971 in Freiburg). Man kann in der Zeitung blättern, Fotos aus New York anschauen und darüber nachdenken, welche ungeschriebenen Gesetze zum Beispiel den American Way of Life im Zaum halten. Noch grundsätzlicher fragt Matthew Buckingham (geboren 1963 in Nevada) nach dem Dünger, der Städte aus dem Boden schießen lässt: „Wir errichten, zerstören und erneuern unsere Stadt im Zeichen unserer Wirtschaft, vertrauend auf Wachstum und Überschuss inmitten unerfüllter Bedürfnisse.“

Und dass Gunther Reski (geboren 1963 in Bochum) das Thema mit zwei imposanten Kühen samt Glocken konterkariert, weist eher auf den Schalk im Künstler als auf Gottvertrauen hin. So lesen sich auch Textfragmente, auf dem Wandbild und daneben auch auf einer Litfaßsäule: „Jede Mehrheit hat mal als Minderheit begonnen“.

Der ordnenden Funktion des (Stadt-) Plans widmet sich Mat Mullican (geboren 1951 Santa Monica). In seiner großformatigen Frottage tauchen vor einer Art Kristallpalast auch historische Dampflokomotiven auf, als hätten sie in der Remise Zuflucht gesucht. Der klassischen Architekturzeichnung, die zentralperspektivische Illusionen anstrebend, nähert sich Silke Schatz (geboren 1967 in Celle) mit zwei riesigen Arbeiten mit Blei- und Buntstift auf Papier.

Schlimm sind auch die massiv betonierten Betonschalen gewesen

Dabei durchleuchtet sie wie mit Röntgenstrahlen Gebäude wie die Villa Torlonia in Rom, in der Mussolini wohnte, oder das Woods Hole Restaurant Cape Cod, in dem sich Buckminster Fuller „The Dome“ ausdachte. Das Außen und das Innen verschmelzen in einem verwirrend dichten Netz von Linien.

Auch dem gerasterten Gitternetz moderner Skelettbauten lässt sich eine fatale Ähnlichkeit mit Käfiggittern nicht absprechen. Man muss den anthroposophischen Horror vor dem rechten Winkel nicht teilen, um die auf ihr tragendes Gerüst reduzierten Parkhäuser, die Rita McBride (geboren 1960 in Des Moines) als in Bronze oder Aluminium gegossene Modelle verwirklicht, gruselig zu finden. Auch wenn sie als Skulpturen überzeugen.

Schlimm sind auch die massiv betonierten Betonschalen gewesen, die als mit Blumen bepflanzte Vordächer die Brüstungen und Eingänge ausgedehnter Wohnkomplexe mitunter heute noch bewehren. Manfred Pernice (geboren 1963 in Hildesheim) widmet sie sarkastisch – etwa als Sitzbank – zu urbanem Mobiliar um.

Der mehr Verwirrung als Klarheit stiftenden Qualität des komplexen Themas hat die Installation von Franz Ackermann Form verliehen. Sie ist 2005 für die Biennale in Lyon entstanden, „Facing Sunrise“ überschrieben und breitet als „Raum im Raum“ zwölf gigantische Zeichnungen über vier Wände aus. Drei große Fotos unter anderem vom Berliner Palast der Republik komplettieren das Werk. Der vergitterte Kubus in der Mitte setzt den Betrachter in Bewegung, untermauert aber auch das Gefühl, sich im undurchschaubaren Netz erdrückender Bedingungen und Wahrnehmungen zu verlieren.

„Nenn mich nicht Stadt – Künstlerische Positionen zur Urbanität heute“: Lokremise St.Gallen, Schweiz. Grünbergstraße 7. Bis zum 10. November. Mo bis Sa 13 bis 20, So 11 bis 18 Uhr. www.lokremise.ch