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Mehr als eine "Leerstelle": Mithu M. Sanyal stellt in einem Buch die Kulturgeschichte der Vulva dar.

Stuttgart - Das weibliche Geschlechtsteil ist im allgemeinen Bewusstsein eine "Leerstelle", ein "Loch". Die Autorin Mithu M. Sanyal stellt in einem Buch die Kulturgeschichte der Vulva dar - und plädiert für eine Enttabuisierung des Feuchtgebiets.

Frau Sanyal, Sie haben eine Versuchsreihe mit Wissenschaftlerinnen durchgeführt, bei der laut Ihrer Beschreibung "alle Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande brachten". Es handelt sich um Akademikerinnen, wieso waren denen die eigenen Genitalien so fremd?

Weil sie so stark tabuisiert sind, dass bereits die Tatsache, dass hier etwas tabuisiert wird, ein Tabu ist. Das ist wie ein eingebauter Filter, die Verdrängung geschieht automatisch. Ich selbst habe vor zehn Jahren, als ich mich mit dem Thema zu befassen begann, gemerkt, wie wenig ich weiß.

Sie schildern, dass Ihnen als 15-Jährige eine "eigene Vulvaerfahrung" fehlte und Sie Ihr Geschlechtsteil als Teil einer fremden Welt erlebten. Das scheint den meisten Frauen so zu gehen. Warum?

Was fehlt, sind Bilder - und zwar positive, taugliche Bilder. Außerdem fehlt es an den richtigen Bezeichnungen für das weibliche Genital. Eltern sagen zum Sohn: Das ist dein Penis, schön. Zur Tochter sagen sie: Wasch dich da unten, es besteht Infektionsgefahr. Auch die Sozialisierung der Geschlechter fällt unterschiedlich aus. Als Jugendliche las ich fasziniert in Franz Wedekinds "Frühlings Erwachen", dass eine Gruppe Jungen um die Wette onaniert. Man stelle sich vor, Mädchen würden das tun. Ich erinnere mich, wie ich als Mädchen das erste Mal meine Vulva im Spiegel betrachtet und mich gefragt habe: Was ist das eigentlich? Ich kannte kein gutes Wort dafür.

Warum plädieren Sie anstelle von Vagina, Scheide oder umgangssprachlichen Begriffen für den Ausdruck Vulva?

Die Vulva ist die äußere Form des weiblichen Genitals, das, was wir zuerst sehen. Die Vagina verbindet die Vulva mit den inneren Geschlechtsorganen, etwa der Gebärmutter. Vagina ist der lateinische Begriff für Scheide. Anatomen haben ihn im 17.Jahrhundert gewählt, als sie sich überlegten, wofür das Ding gut ist. Auch sein Schwert steckt der Mann in die Scheide. Damit verschwand aber das sichtbare weibliche Genital aus der Sprache, es war jetzt ein Loch, eine Scheide für den Penis.

Jeder Mensch ist durch eine Vulva ans Licht der Welt gelangt. Jeder sexuell aktive Mensch hat mit einer Vulva zu tun. Und dennoch wird sie "als Loch, Leerstelle oder Nichts beschrieben". Warum nicht als Quelle der Lust?

Mir geht es um die Wiederentdeckung dieser Quelle kreativer sexueller Lust. Als kleine Mädchen hat man uns vermittelt: Oh, pass auf dein Geschlechtsorgan auf, du kannst vergewaltigt werden. So als wäre das der Zweck des weiblichen Genitals. Dann gibt es die kulturelle Norm, dass der Mann immer kann, während sich die Frau vor sexuellen Zudringlichkeiten schützen muss. Das geht auf Aristoteles zurück, der die Vorstellung propagierte, Männer hätten das innere Feuer, durch das sie ihre Geschlechtsorgane nach außen drücken könnten. Frauen dagegen fehle dieses Feuer, weshalb ihre Genitalien unterentwickelt im Körper verblieben. Die Frau ist demnach kein richtiger Mensch. Auf dieser Setzung basiert die Vorstellung des Mannes als sexuell aktiv und der Frau als passiv. Weil der Frau etwas fehlte, wurde sie jahrhundertelang vom Kulturprozess ausgeschlossen.

Übertreiben Sie nicht ein wenig?

An den Genitalien wurde viel mehr verhandelt als nur Sex. Es ging immer auch um Schaffenskraft, im künstlerischen und intellektuellen Sinn, also in letzter Instanz um eine eigene Stimme. Der Phallus steht für ein Weltbild, in dem alles höher, schneller, besser gemessen werden kann, für ein klares Oben und Unten. Die Vulva repräsentierte das, was ausgeblendet wurde, etwa die unangenehme Tatsache, dass es Frauen waren, die Kinder bekamen - womit sie Gott als alleinigem Schöpfer Konkurrenz machten. Darüber hinaus gibt es noch den Aspekt, dass die unteren Lippen mit den oberen gleichgesetzt wurden. Die Frau schweige in der Gemeinde, ordnete der Apostel Paulus an. Wo Frauen dennoch ihre Stimmen erhoben, wurde das sexualisiert und dämonisiert. Wenn in der Antike die Sirenen sangen, war das tödlich für den Mann. Davon hat sich noch einiges unbewusst erhalten. Deshalb ist es wichtig aufzudecken, woher diese Konzepte kommen.

Sie berichten in Ihrem Buch auch von der amerikanischen Performance-Künstlerin Annie Sprinkle. Bei Liveshows lädt sie das Publikum ein, ihren Gebärmutterhals mittels Spekulum und Taschenlampe zu betrachten, um den "weiblichen Körper zu entmystifizieren". Verhilft mehr Unterleib zu mehr Verständnis?

Die Performance in Düsseldorf war zur Hälfte von Männern und Frauen besucht, und ich habe diese danach befragt. Schön, sagten die meisten. Auch der Begriff liebevoll fiel. Alle waren bewegt, manche gerührt, niemand äußerte sich abfällig. Vielleicht ist das die typisch amerikanische Sexpositivität, von der wir mehr bräuchten.

Sie sind im Internet auf Frauen gestoßen, die "wegen ihrer Genitalien an Selbstmord denken oder vor Scham noch nie gewagt haben, Geschlechtsverkehr einzugehen". Überwiegen diese Frauen gegenüber Geschlechtsgenossinnen, die einfach schön finden, was sie zwischen den Beinen haben?

Das bezieht sich speziell auf Seiten, auf denen Frauen Schönheitsoperationen an ihrem Genital diskutieren. Heute ist häufig von der Designervagina die Rede. Viermal so viele Frauen wie noch vor wenigen Jahren erwägen eine solche Operation. Interessant ist, dass es dabei häufig um die Verkleinerung der inneren Schamlippen geht, wenn diese über die äußeren Schamlippen hinausragen. Das gilt als hässlich. Was insofern verblüffend ist, als es ja kaum Bilder gibt. Woher wissen wir also, was schön und was hässlich ist?

Wie kommt es zu dieser Einschätzung?

Ich habe herausgefunden, dass ein Grund für diese Norm rassistische Wurzeln hat. Der Chirurg Napoleons meinte, in den Schamlippen der sogenannten Hottentottenfrauen das fehlende Glied zwischen Affen und Menschen entdeckt zu haben. Erst mit zunehmender Zivilisation hätten sich die Schamlippen bei westlichen Frauen zurückgebildet - und damit auch ihre tierische Sexualität. Auch heute soll die Vulva klein und wenig auffällig sein. Das ist die neue Normvorstellung, deshalb wird auch das Schamhaar gestutzt oder ganz wegrasiert. Im 18. und 19.Jahrhundert war es umgekehrt, da trugen Frauen in England sogar Schamhaarperücken.

Sie haben eine neunjährige Tochter. Wie reden Sie mit ihr über das weibliche Genital?

Meine Tochter ist in der Vorpubertät, sie spricht jetzt mit ihren Freundinnen über dieses Thema. Manchmal auch noch mit mir, aber weniger. Früher haben sie und mein jetzt fünfjähriger Sohn einander ihre Genitalien gezeigt und versucht, sich die Unterschiede zu erklären. Als mein Buch dann erschien, hat mein Sohn es stolz in den Kindergarten mitgenommen.