Abgas-Grenzwerte gelten inzwischen nicht mehr nur im Labor, sondern auch auf der Straße. Foto: dpa

Ein EU-Gericht will die Vorschriften für Abgasmessungen weiter verschärfen und stößt auf Widerstand der Kommissare. Für die neueste Technologie kann es dabei ums Ganze gehen.

Stuttgart - Es wäre eine Horrorvorstellung für die Autoindustrie und Zehntausende Beschäftigte: Zulassungs- und Fahrverbote für die neuesten Dieselautos könnten im schlimmsten Fall dazu führen, dass das mühsam wieder aufgebaute Vertrauen in die Dieseltechnologie zerstört wird. Und das, obwohl die neuesten Fahrzeuge ihren Ausstoß an schädlichen Stickoxiden so drastisch reduziert haben, dass man sich fragt, warum viele Hersteller überhaupt in die Trickkiste gegriffen haben. Während Euro-5-Diesel auf der Straße im Durchschnitt noch mehr als 900 Milligramm Stickoxide pro Kilometer in die Luft blasen, kommen viele der neuesten Diesel auf Schadstoffwerte von unter 30, vereinzelt sogar auf nur ein Milligramm.

Welche Werte gelten auf der Straße?

Eine neue Bauweise und eine verbesserte Motorsteuerung sorgen dafür, dass die Abgaskatalysatoren oft schon nach weniger als zwei Minuten auf Idealtemperatur sind und diese auch halten – bei Wind und Wetter, auf der Landstraße und in den Städten, wo niedrige Werte besonders wichtig sind. „Der Diesel ist ökologisch rehabilitiert“, sagte Bosch-Chef Volkmar Denner vergangenes Jahr. „Nicht der Verbrennungsantrieb ist überholt, sondern die Debatte über sein baldiges Ende.“

Doch da gab es das Urteil des Gerichts der Europäischen Union (EuG) noch nicht. Die Frage, über die er im Dezember 2018 entschied, gleicht auf den ersten Blick einem Gabelfrühstück für juristische Feinschmecker: Durfte die EU-Kommission fast eigenständig über die Konformitätsfaktoren für die Straßentests entscheiden? Der derzeit gültige Faktor von 2,1 besagt, dass bei den Straßentests nicht nur 80 Milligramm wie im Labor erlaubt sind, sondern 168 Milligramm – ab kommendem Jahr sind es dann 114 Milligramm. Eine solche Aufweichung der Regeln hätte die Kommission nicht weitgehend im Alleingang beschließen dürfen, sagen die EU-Richter. Dafür wäre vielmehr ein aufwendiges Gesetzgebungsverfahren nötig gewesen.

Die Kommission erklärt dagegen, sie habe die bestehenden Grenzwerte gar nicht verändert. Vielmehr gehe es um die statistischen Unsicherheiten, die etwa dadurch entstehen, dass beim Straßentest ungenauere Messgeräte verwendet werden als im Labor. Kein Auto soll den Grenzwert nur deshalb überschreiten, weil das Messgerät falsch anzeigt.

Der Ausstoß ist niedrig, die Streubreite groß

Warum aber sind 114 Milligramm ein Problem, wenn viele Autos locker die Marke von 30 unterschreiten? Weil es beliebig viele solcher Testfahrten gibt und der Wert nicht nur im Durchschnitt eingehalten werden muss, sondern bei jeder einzelnen Fahrt – und das bei Autos mit Fahrleistungen bis zu 160 000 Kilometern. Sinkt die Grenze auch für die schlechteste aller Fahrten auf 80 Milligramm, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fahrzeug doch noch durchfällt, vielleicht auch nachträglich. Das hieße dann, dass nicht einmal die Käufer neuester Dieselautos mehr sicher sein können, von Einschränkungen wie Fahrverboten verschont zu bleiben. Der Albtraum der Autobranche.

Dazu aber kommt es nun vorerst nicht. Die EU-Kommission legt Berufung gegen die Entscheidung ein und startet zugleich ein reguläres Gesetzgebungsverfahren, wie verlangt. Sie setzt somit eine Entscheidung um, gegen die sie sich zugleich wehrt – gewinnt dadurch aber Zeit für das neue Verfahren, das durch die Europawahl erheblich verzögert werden dürfte.

EU-Wahl macht Verfahren nicht einfacher

Wie sich die EU-Wahl mit einer mutmaßlichen Stärkung antieuropäischer Kräfte auf den Umgang mit der deutschen Autoindustrie auswirkt, lässt sich bisher kaum abschätzen. Scheitert die Berufung gegen das Urteil, kann schon eine bewusste Verzögerung des Gesetzgebungsverfahrens dazu führen, dass die Faktoren automatisch wegfallen. Dann geht es für den Diesel wirklich ums Ganze.