Der sorgenvoller Blick des Schachweltmeisters Magnus Carlsen ist berechtigt: Nach acht Partien und vier Partien vor Schluss liegt er bei der Schach-WM einen Punkt hinter seinem Herausforderer Sergej Karjakin. Foto:  

Magnus Carlsen droht nach einer Niederlage in der achten Partie der Schach-WM gegen seinen Herausforderer Sergej Krajakin der Verlust seiner Schachkrone.

New York - Magnus Carlsen sitzt da am Rande des großen Podiums. Allein. Der glasige Blick geht ins Leere, er hadert, er leidet. So sieht jemand aus, der gerade etwas erlebt hat, das der spanische Schach-Guru Leontxo Garcia als „die dramatischste und schmerzhafteste Niederlage seiner Karriere“ beschreibt, als einen „tödlichen Stoß“. Tatsächlich hatte Carlsen soeben die achte Partie der Schach-WM gegen seinen russischen Herausforderer Sergej Karjakin aufgeben müssen. Die erste entschiedene Partie nach zuvor sieben Unentschieden.

Vielleicht ist das schon die Vorentscheidung in einem Match, in das der norwegische Titelverteidiger als haushoher Favorit gestartet war. Nun soll er vor der Presse auch noch die Niederlage erklären. Aber Karjakin lässt auf sich warten, deshalb sitzt er nun so allein da. Da bricht es aus ihm heraus, wild gestikulierend springt er auf, rennt aus dem Saal. Er will nur noch weg, nichts erklären, nichts sagen, keine gute Mime zu seinem schlechten Spiel machen.

Witterung für Gefahr im Verzug

Obwohl „schlecht“ dieses verrückte, nervöse, atemberaubende, zermürbende Spiel gar nicht richtig beschreibt. Was war passiert? Carlsen ist bekannt für sein cooles Anhäufen kleiner Vorteile, seine unerschütterliche Geduld, seine Witterung für Gefahr im Verzug. Aber sieben Mal war er nun schon gegen diese russische Gummiwand angerannt, die alle Angriffe abfederte. Diesmal aber sollte die Entscheidung her. Diesmal endlich wollte Carlsen durchdringen, koste es, was es wolle. Der Norweger war bereit, das Risiko entscheidend zu erhöhen. Wieder wählte er eine auf Spitzenniveau selten gespielte Eröffnung, die den Namen eines WM-Herausforderers aus dem 19. Jahrhundert trägt: Zukertort.

Lange blieb die Partie in einem unruhigen Gleichgewicht, aber Carlsen verschärfte die Gangart, sorgte für Komplikationen, auch auf Kosten eigener Schwächungen. In der vierten Stunde hatte Carlsen leichten Druck, er hätte seinen Gegner mal wieder lange schwitzen lassen können. Aber in Zeitnot verschärfte er erneut und überzog. Nach 35 Zügen hatte er die Partie zum ersten Mal verloren.

Nur – erster Höhepunkt des Dramas – übersah Sergej Karjakin seine große Chance. Am Ende der Zeitnotphase, vierzig Züge waren im Limit von zwei Stunden gespielt, hatte Carlsen überlebt. Die Stellung wurde übersichtlicher, viele Figuren waren vom Brett verschwunden. Nur einen Randbauern des Russen musste der Norweger noch an die Leine legen, denn wenn der bis zur letzten Reihe durchliefe, wandelte er sich siegbringend zur Dame um. Alle Kommentatoren begannen schon den Abgesang auf die Partie. Alle erwarteten den Remis-Schluss. Aber wieder und wieder spielte Carlsen weiter, vermied sichere Varianten, schürte das Feuer, wollte es zwingen, mit aller Macht. Und dann überzog er, unterschätzte die Konterchancen des nie ermüdenden Russen. Der setzte mit klinischer Präzision den Gnadenstoß. Einen Zug vor der Umwandlung des Bauern gab Carlsen auf.

Er hat noch vier Spiele, um auszugleichen und sich in die Verlängerung zu retten. Aber er wirkt erschüttert. Karjakins Stoizismus hat erreicht, dass der Champ seinem Spielstil untreu wird. Carlsen ist kein Hasardeur. Nun aber muss er es sein.