Deichlämmer sind nicht nur eine Delikatesse, sondern sie dienen auch dem Naturschutz. Foto: Markert

Reisen und Naturschutz als Widerspruch? Nicht bei der Wattenmeer-Tour von WWF und One World.

Es schmatzt, saugt, schlingt sich um die Füße, als ob es nie wieder loslassen möchte. Sehr vorsichtig, weil blind, tastet sich die menschliche Raupe auf dem unbekannten Boden voran. Der Wind zerrt an den Haaren, wir hören die Möwen, spüren die sicheren Schultern des Vordermanns, riechen das Meer – nur sehen können wir es nicht, auch nicht, als ein erlösendes "Augen auf" erklingt.

Bei Ebbe ist die Nordsee das Wattenmeer und auf den ersten Blick vor allem eins: langweilig. 4500 Quadratkilometer graubrauner Schlick, der mal mehr, mal weniger stark nach den Gummistiefeln schnappt. Wind und Wasser haben wellenartige Muster in den leblosen Boden gemalt. Gäbe es nicht immer wieder kleine Pfützen und größere Priele, man käme sich vor wie in der Wüste. Keine Bäume und Häuser, als Orientierung nur der rot-weiß-rote Leuchtturm von Westerhever.

Zum Glück gibt es Esther, unsere Wattführerin, die vom Raupenexperiment an klarmacht: "Das Watt muss man mit allen Sinnen erleben." Was das bedeutet, verraten die vielen Schlammspuren auf ihrer blauen Jacke. Beherzt sticht die zierliche 18-Jährige aus Stuttgart mit ihrem Spaten einen Krater in den schlickigen Boden. Seit sie ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr in der Schutzstation Wattenmeer macht, gehören Lebewesen wie der hässliche rotschwarze Wurm, den sie jetzt aus dem Loch zieht, zu ihrem Alltag. "Das ist der Wattwurm, der Bioingenieur im Watt, weil er den Boden mit Sauerstoff versorgt." Dann fischt sie einen winzigen schwarzen Punkt aus einem der Priele, in die sich die Nordsee zweimal am Tag zurückzieht. "Eine Wattschnecke, die kann sich an die Unterseite des Wassers kleben und so bis zu drei Stundenkilometer schnell zur nächsten Pfütze surfen."


Plötzlich wird aus dem winzigen Punkt die schnellste Schnecke der Welt und damit ein faszinierendes Lebewesen. Was sich die Tiere und Pflanzen im Watt alles einfallen lassen, um im Kommen und Gehen der Gezeiten weder zu vertrocknen noch unterzugehen! Unser Jagdfieber ist geweckt. Wir wollen auch seltsame Tiere aus dem Schlick fischen, wollen finden, was der erste Blick nicht gesehen hat. Willkommen im Weltnaturerbe. Mit 10.000 Quadratkilometern ist es das größte zusammenhängende Wattgebiet der Erde, einer der letzten ursprünglichen Naturräume Europas, Energietankstelle für Tausende von Vögeln auf der Durchreise von der Arktis nach Afrika, Kinderstube für Millionen von Fischen. Hans-Ulrich Rösner ist in seinem Element, als er uns im Nationalparkhaus Husum auf Schautafeln zeigt, wo wir auf Wattsafari waren. Seit das Wattenmeer im Juni 2009 von der Unesco zum Weltnaturerbe ernannt wurde, könnte sich der Leiter des WWF-Wattenmeerbüros eigentlich zufrieden in seinem Sessel zurücklehnen.

Nach 100 Jahren Arbeit ist es den Naturschützern an der Nordsee gelungen, den Artenschwund zu stoppen und Tiere wie den Löffler oder die Kegelrobbe zurückzugewinnen. Die Robbenjagd wurde verboten. Seit 1978 wurden in den Wattenmeer-Anrainerstaaten Dänemark, Niederlande und Deutschland zahlreiche Nationalparks gegründet. Und durch die Unesco-Auszeichnung ist das Watt für die Zukunft auch politisch bestmöglich abgesichert, wenn man etwa an den Bau neuer Industrieanlagen denkt. Warum also ruht sich Rösner nicht auf diesen Erfolgen aus, sondern erklärt seit neuestem Reisegruppen wie uns das Ökosystem Wattenmeer?

Zwar ist bislang die Befürchtung der Naturschützer nicht eingetreten, dass hordenweise Japaner im Watt einfallen, weil dieses als Weltnaturerbe plötzlich in einem Atemzug mit dem Grand Canyon und dem Great Barrier Reef genannt wird. Aber die Urlauber an der Nordsee hinterlassen nicht nur im Watt ihre Fußabdrücke. Sie reisen an, brauchen einen Schlafplatz, gehen raus in die Natur, rein in die Nordsee, fahren Fähre oder Jetski und verdrücken Krabbenbrötchen. Wenn sie wieder abreisen, bleibt ihr touristischer Fußabdruck in Form von Co2 zurück. Passt irgendwie nicht in ein Weltnaturerbe, dachte sich der Reiseveranstalter One World Reisen mit Sinnen. Zusammen mit dem WWF wurde deswegen eine nachhaltige Entdeckertour ausgetüftelt, die statt großer Fußabdrücke ökologische Eindrücke zum Nachdenken hinterlassen soll.
Drehen, knacken, ziehen. Wer bei Lilo Cordts-Sanzenbacher in Osterhever Krabben bestellt, muss selbst pulen. Als Anfänger brauchen wir ewig, bis ein winziges hellrosa Stück Fleisch auf der Zunge landet. Dafür vergeht uns aber auch nicht der Appetit, als Biologin und Reiseleiterin Anja Szczesinski erzählt, wie die meisten Krabben nach Marokko und Polen gekarrt werden, damit ihnen dort billige Arbeitskräfte die Hülle abziehen. Im "Naturköstliches" wird nur mit regionalen Produkten gekocht. Damit Lilos ungeübte Gäste nicht verhungern, gibt’s die Krabben später auch hüllenlos. "Zum Glück haben wir eine alte, sehr geschickte Nachbarin. Früher hat man das Pulen eben noch richtig gelernt."

Ohne Nachbarschaftshilfe hätten auch die Bewohner auf Hallig Hooge im letzten Winter mit knurrenden Mägen am Tisch gesessen. Dicke Eisschollen versperrten den Autofähren die Hafenzufahrt. Die Waren für den Halligkaufmann, einen der kleinsten Supermärkte Deutschlands, mussten die 110 Hooger vom Motorboot über eine Menschenkette in die Regale transportieren. "Es gibt zwar viel Streit bei uns, aber wenn’s drauf ankommt, halten wir zusammen", sagt Silke Claußen. Während die Tagesausflügler zur Hallig aufgeregt schnatternd im dämpfigen Aufenthaltsraum der Fähre sitzen, blättert sie entspannt in einer Zeitschrift. Sie ist die letzten 63 Jahre so oft zum Festland und wieder zurück gefahren, dass ihr ein kaum spürbarer Schlenker der Fähre reicht, um zu wissen, dass sie sich jetzt wieder in Regenjacke und wasserdichte Hose zwängen muss. "Gleich sind wir da."

Hallig Hooge hebt sich kaum vom Grau der Nordsee ab. Während einem der Wind kalten Regen um die Ohren peitscht, fällt es besonders schwer zu begreifen, warum Menschen wie Silke Claußen hier leben. Auf nur sechs Quadratkilometern. Ohne tägliche Fährverbindung zum Festland. Ohne Arzt, dafür aber mit einem Friedhof für Strandleichen, die nicht identifiziert wurden, und mit einem Kino, in dem immer derselbe Katastrophenfilm läuft.
"Achten Sie auf das Klettergerüst, noch spielen hier Kinder." Schnitt. Die Nordsee hat den Spielplatz genauso unter sich begraben wie die Kuhweiden. Was der Hobbyfilmer fürs Sturmflutkino eingefangen hat, passiert auf Hooge mehrmals im Jahr. Bei "Land unter" ragen nur noch die zehn Warften aus der Nordsee, auf denen die Häuser liegen. Noch.

Denn Hooge und die neun anderen Halligen im nordfriesischen Wattenmeer liegen nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Mit dem Klimawandel wird dieser bis zum Jahr 2100 zwischen 50 und 150 Zentimeter ansteigen. Inseln wie Sylt bangen um ihre Sandstrände, die Hallig-Bewohner um ihr Zuhause.

Auch wenn Silke Claußen mit ihren 63 Jahren zu alt ist, um ihr Ferienhaus irgendwann im Meer versinken zu sehen, ist sie mit Marlies Huus seit kurzem Nationalpark-Partnerin. Sie kauft nur noch Recycling-Klopapier und Bio-Waschmittel und lässt ihre Gäste den Müll trennen. "Der Druck von außen wurde immer größer, also habe ich mitgemacht."

Naturschützer wie Hans-Ulrich Rösner werden über solche Sätze zufrieden lächeln. Es ist einfach noch nicht Zeit, sich bequem im Sessel zurückzulehnen.
Nachhaltige Entdeckertour durchs Wattenmeer

Allgemeines

Die Gruppenreise Wattenmeer – Meeresgrund trifft Horizont findet wieder vom 12. bis 18. September und vom 25. September bis 1. Oktober statt. Das Programm umfasst unter anderem drei mehrstündig geführte Wattwanderungen, eine Radtour, einen lyrischen Nachtspaziergang in Husum, Besuche beim WWF und in einer Wattenmeer-Schutzstation und wird von einer fachbiologischen Reiseleitung begleitet. Nicht im Preis von 990 Euro enthalten sind An- und Abreise sowie ein Teil der Verpflegung. Buchung und Infos: One World, Reisen mit Sinnen, Roseggerstraße 59, 44137 Dortmund, Telefon 0231/5897920. http://www.reisenmitsinnen.de

Reisezeit

Der Veranstalter bietet die Entdeckertouren von April bis Anfang Oktober an. Im Frühjahr und Herbst gibt es mehr Vögel zu beobachten, in den Sommermonaten ist es dafür wärmer.

Was Sie tun und lassen sollten

Auf jeden Fall barfuß durchs Watt wandern – sofern es die Temperaturen zulassen.

Auf keinen Fall sollte man sich beim Packen zu sehr auf den Wetterbericht verlassen. An der Nordsee ändert sich dieses ständig. Deswegen gehören Gummistiefel und Regenhose genauso ins Gepäck wie Sonnencreme.
Die kleinen Fünf schinden großen Eindruck

Elefant, Büffel, Löwe, Leopard und Nashorn: Bei einer Safari in Südafrika gehören diese "Big Five" genannten Tiere zur Foto-Jagdbeute. Auf Wattsafari muss man vor dem Knipsen zwar erst mal im Schlick graben, dafür wohnen auf einem Kubikmeter Watt aber auch bis zu 100000 Kleintiere, die sich mit raffinierten Tricks an die Gezeiten angepasst haben – allen voran diese "Small Five":

Die Strandkrabbe:

Wegen ihres eigenwilligen Gangs heißen sie auf Plattdeutsch auch Dwarslöper, Querläufer. Eigentlich atmen die Tiere über Kiemen, bei Ebbe können sie aber für kurze Zeit auf Luftatmung umschalten – oder sich im Wattboden vergraben. Vor den Räubern mit den kräftigen Scheren ist keine Muschel sicher.

Der Wattwurm:

Haufenweise Sandspaghetti auf dem Wattboden sind ein sicheres Zeichen dafür, dass er nicht weit sein kann. Um an Algen und Bakterien zu kommen, schleusen die rotbraunen Wattwürmer im Jahr bis zu 25 Kilo Sand durch ihren Körper und versorgen den Boden dabei gleich noch mit Sauerstoff.

Die Herzmuschel:

Bei Ebbe gräbt sich die Muschel mit dem herzförmigen Körper im Watt ein. Sobald Flut ist, schiebt sie zwei Versorgungsschläuche an die Oberfläche, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern.

Die Wattschnecke:

Normalerweise bewegen sich die wenige Millimeter kleinen Tiere wie ihre Artgenossen im Schneckentempo voran. Sobald ihnen aber Wasser in die Quere kommt, bauen sie sich aus Schneckenschleim ein Floß, auf dem sie bis zu drei Kilometer je Stunde schnell durchs Wasser surfen.

Die Nordseegarnele:

Nicht nur auf dem Brötchen wird sie fälschlicherweise gern Krabbe genannt. Ungekocht und ungepult können sie ihre Farbe dem Untergrund anpassen und sind deswegen im Watt kaum zu entdecken – weder von Fressfeinden wie Vögeln und Krabben noch von Wattwanderern.