Archive gehen uns alle an, findet Sandra Richter Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wer denkt bei Marbach an Musik oder Kabarett? Im Deutschen Literaturarchiv liegt manches, was man dort nicht vermutet. Die neue Direktorin Sandra Richter will es ans Licht bringen. Doch der wichtigste hier gehütete Schatz ist die Wahrheit der Geschichte.

Stuttgart - Ihr Büro in der Stuttgarter Uni ist im Stadium der Auflösung. Vereinzelte Buchstapel warten darauf, dorthin transportiert zu werden, wo sich Bücher am wohlsten fühlen: ins Deutsche Literaturarchiv. Ab 2019 zieht die Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter dort die Fäden. Und wenn es so kommt, wie sie es sich vorstellt, könnte der Gelehrtenwinkel bald zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft der Literaturbegeisterten werden. Die Begeisterung jedenfalls, mit der sie von ihren Plänen erzählt, hat etwas sehr Ansteckendes.

Frau Richter, Sie sind die Tochter eines Schreiners und einer Zigarrenmacherin. Wie kamen Sie zur Literatur?

Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, dort gab es nichts als Kühe und Bücher. Ich habe mich den Büchern gewidmet. Speziell meine Mutter las mir vieles vor. Sie wollte etwas anderes sein als Hausfrau oder Zigarrenmacherin, und später habe ich mich vielleicht auch aufgrund dieser Erfahrungen für die Literatur entschieden.

Die Zigarren rauchende Frau gehört in die Ikonografie der Feminismusgeschichte. Hat Sie das beeinflusst?

Ich habe Zigarillos geraucht, als ich jünger war, habe das aber nicht lange durchgehalten, weil mir das Zeug dann doch nicht schmeckte. Aber Gitanes und dergleichen – ich besaß auch einmal eine Pfeife –, das hatte eine gewisse Bedeutung. Früher las ich George Sand, Simone de Beauvoir und Louise Aston und habe mich mit ihrem Habitus identifiziert. Aber diese feministische Komödie war vorbei, als ich 18 wurde.

Ihre Karriere ist eine Folge von Pioniertaten: Sie waren zunächst die jüngste Lehrstuhlinhaberin Deutschlands, nun sind Sie die erste Frau an der Spitze des Literaturarchivs.

Ich habe mich nie so gesehen. Es hat sich so ergeben und hatte immer seine guten und seine problematischen Seiten. Wenn Sie als jüngere Frau an die Universität kommen, müssen Sie sich erst einmal bewähren, weil jeder wissen möchte, ob „die das eigentlich kann“. So natürlich auch hier an einer technischen Universität, an der man die Geisteswissenschaften nur mit Einschränkungen ernst nahm. Heute hat sich diese Einschätzung ins Gegenteil verkehrt.

Wird das Marbacher Institut weiblicher?

Den Zahlen nach sicher. Inwiefern sich das inhaltlich spiegelt, wird man sehen. Ein Thema, mit dem wir uns befassen wollen, ist das Kabarett. In diesem Zusammenhang fallen viele Künstlerinnen ins Auge, darunter die expressionistische Schriftstellerin Else Lasker-Schüler oder Salka Viertel, Schauspielerin und Drehbuchautorin von Greta Garbo.

Als Literaturwissenschaftler nutzt man Archive. Was bringt einen dazu, eines leiten zu wollen?

Die Überzeugung, dass Archive unglaublich wichtig sind. Wir stehen in einer Zeit, in der die digitale Welt immer größere Bedeutung gewinnt. Aber alles Virtuelle ist potenziell austauschbar, lässt sich manipulieren. Wie kommen wir an die Wahrheit der Geschichte heran? Archive sind heute bedeutender denn je, weil sie genau darauf eine Antwort geben. Wir leben in politisch prekären Zeiten, in denen man sich fragen muss, wo Dokumente sicher aufbewahrt werden und auf welche Weise ihr Gedächtnis an die Nachwelt überliefert wird.

Kann es sein, dass die Speicher immer mehr anwachsen, während die Bedeutung der Literatur immer weiter schwindet?

Ich bezweifle, dass in den 50er Jahren jeder seinen Schiller kannte, und hoffe, dass wir ihn in Marbach heute umso aktueller werden lassen können. Es geht dort ja nicht nur um Forschung oder Erschließung, sondern um die Faszination für die Literatur und das Schreiben. Das Schwinden der Leserzahlen sehe ich mit Entsetzen, aber daraus folgt eine Aufgabe. Wir wollen das Publikum für das begeistern, was in unseren Magazinen gesammelt wird.

Wie wollen Sie junge Leute an das immer noch ziemlich elitäre Marbach heranführen?

Die Schulen sind ein wichtiger Ansatzpunkt. Wir müssen Angebote unterbreiten: Einen Koffer packen und in Schulklassen zeigen, was ein Originaltext, ein Manuskript ist. Auf die Weise können wir vermitteln, wie sich der Prozess des Schreibens entwickelt, und auch Hemmschwellen senken. Wie entsteht das überhaupt, was wir als Literatur begreifen? Von der ersten Idee, dem Notizblock oder Tagebuch bis zum gedruckten Buch. Oder wir können Orte aufsuchen, die bisher mit Literatur wenig Berührungspunkte hatten: Sportvereine, Computerclubs oder Konzerthäuser.

Für die Öffentlichkeit tritt das Archiv vor allem mit Ausstellungen in Erscheinung. In welche Richtung werden Sie gehen?

Mir ist das dialogische Prinzip sehr wichtig. Wir planen zum Beispiel für den Herbst 2019 eine Ausstellung zum Kolonialismus. Das geht nicht ohne afrikanische Partner. Wir wollen ihre Perspektive einbeziehen, um das Verhältnis von Literatur und Kolonialismus aus den Archivalien heraus zu ergründen. Es gibt den deutschen Kolonialroman, aber eine Autorin wie Frieda von Bülow, die ihn begründet hat, kennt heute niemand mehr. Sie war mit Rilke und Lou Andreas-Salomé befreundet und hat mit ihrem Roman „Tropenkoller“ einen Bestseller ihrer Zeit geschrieben. Es ist an der Zeit, solche Texte in kritischer Weise neu anzuschauen.

Wird das Ihr erstes großes Projekt?

Es beginnt mit einer Reihe unter dem Titel „Literatur bewegt“. Wir wollen Literatur in ihre medialen Kontexte stellen. Gedichte der Romantik wie Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ sind heute noch so bekannt, weil sie vertont wurden. Die erste Ausstellung in dieser Reihe wird im Mai beginnen und vom Kabarett handeln. Auch die Erwerbungspolitik wird sich diesen medialen Formen öffnen, zumal Marbach schon einen Sammlungsauftrag für die sogenannten „Liedermacher“ hat.

Ihr Vorgänger Ulrich Raulff hat die Bilder aus dem Archiv befreit. Was wollen Sie ans Licht holen?

Die Töne. Sie gehören zu den Bildern. In Marbach ruht ein Tonarchiv des 20. Jahrhunderts: von der ersten Lesung Hugo von Hofmannsthals im Jahr 1907 über den hohen Bühnenton der zwanziger Jahre, der durch den Nationalsozialismus diskreditiert wurde, bis zur frechen Suada Enzensbergers und den Performances von Michael Lentz. Klänge wie diese müssen nicht nur ans Licht, sondern auch ins Ohr.