Ziemlich viel verrauscht hier: Zwei Sachbücher von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman öffnen dem Leser die Augen und zeigen: Die Welt ist nicht, wie sie scheint.
Stuttgart - Viele politisch interessierte Zeitgenossen hören morgens den Deutschlandfunk. Beruhigend zu wissen, dass Dietmar Bartsch die Linke toll findet und Julia Klöckner von ihrem Tierwohllabel vollauf begeistert ist. Am faszinierendsten ist dabei der Börsenbericht. Ein grundlegendes Prinzip der Börse besteht ja darin, dass die Marktteilnehmer nicht wissen, wie die Zukunft aussieht. Wenn alle Beteiligten korrekte Vorhersagen machen würden, könnte das ganze System nicht funktionieren.
Komisch, dass die Börsenexperten hinterher immer eine hübsche Erklärung parat haben, warum sich die Kurse genau so entwickelt haben, wie sie es taten. Die US-Zentralbank hebt den Leitzins, die Kurse steigen? Völlig klar, die Händler haben die Entwicklung bereits eingepreist. Die Kurse fallen? Ohne Frage – die Händler werden nervös, weil die Notenbank die Zinsen anhebt.
Die Treffsicherheit von Börsengurus
Jeder, der über ausreichend rhetorisches Geschick verfügt, kriegt hinterher irgendeine Begründung hin. Der eigentliche Lackmustest besteht darin, korrekte Vorhersagen zu machen. Pech für die Börsengurus: Ihre durchschnittliche Treffsicherheit schafft auch ein Affe, der Pfeile auf eine Dartscheibe wirft.
Der amerikanisch-israelische Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman erzählt in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“, der seit Jahren auf der Spiegel-Liste steht (Sachbuch Taschenbuch Platz 16, Penguin, 624 Seiten, 15 Euro), eine nette Geschichte. Er hielt einen Vortrag vor sehr gut bezahlten Fondsmanagern. Dabei wies er ihnen nach, dass ihre Performance in den vergangenen Jahren fast ausschließlich vom Zufall geprägt war. Mal lagen sie daneben, mal lagen sie richtig. Nach dem Vortrag fuhr ihn einer der Manager zum Flughafen – und schwärmte dem Wissenschaftler vor, wie treffsicher seine letzte Kursanalyse gewesen sei.
Notorisch falsche Vorhersagen
Kahneman ist Experte für solche „blinden Punkte“, „blind spots“, wie sie im Englischen heißen. Wir liegen mit unseren Urteilen und Vorhersagen notorisch daneben, reden uns aber ein, dass wir brillante Prognostiker und treffsicher Urteilende sind. In Wirklichkeit haben wir es mit kognitiver Verzerrung zu tun. Sie basiert zum einen auf Bias, was sich mit „Voreingenommenheit“ übersetzen ließe. Wenn zum Beispiel Lehrer den Aufsatz eines Menschen mit einem türkischen Namen systematisch schlechter beurteilen als den gleichen Aufsatz, wenn ihn angeblich jemand mit einem deutsch klingenden Namen geschrieben hat, dann ist das Bias. Unser schnelles Denksystem greift hierbei auf sogenannte Heuristiken zurück (in diesem Falle auf Vorurteile). Sie erlauben uns, ruck, zuck zu einem Urteil zu kommen – aber eben zu einem verzerrten.
In seinem jüngsten Buch „Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“ (zusammen mit Olivier Sibony und Cass R. Sunstein, Spiegel-Sachbuchbestseller Hardcover Platz 14, Siedler, 480 Seiten, 30 Euro) beschäftigt sich Kahneman mit einer zweiten Kategorie von Fehlurteilen, dem „Noise“ („Rauschen“). Während der Bias Urteile systematisch in eine Richtung verzerrt, erhöht „Noise“ ihre Streuung. Wenn also zehn Lehrer den gleichen Aufsatz jeweils mit Noten irgendwo zwischen „ungenügend“ und „sehr gut“ beurteilen, dann haben wir es mit Rauschen zu tun. Es kann verschiedene Ursachen haben. Manche Lehrer benoten grundsätzlich strenger als andere. Oder die Lehrer sind sich nicht einig darin, was unter „befriedigend“ zu verstehen ist. Es kommt aber auch vor, dass der gleiche Lehrer den gleichen Aufsatz zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet. Vielleicht, weil er an einem sonnigen Tag milde gestimmt ist oder an einem anderen wegen Ärger mit seiner Tochter missmutig.
Das Rauschen reduzieren
Noise spielt bei vielen Urteilen und Vorhersagen eine Rolle. Kahneman und seine Co-Autoren nennen unter anderem medizinische Diagnosen, Kreditentscheidungen von Banken und sogar das Expertenurteil, ob Fingerabdrücke mit einer Vorlage übereinstimmen oder nicht. Die drei Wissenschaftler legen in dem gut zu lesenden Buch überzeugend dar (auch mathematisch, hier wird’s etwas schwieriger), dass es in unserem Interesse ist, Noise zu reduzieren. Schließlich kann man es schwerlich als hilfreich empfinden, wenn der eine Täter für die gleiche Tat fünf, der andere 15 Jahre in den Knast muss. Oder wenn die Krebsdiagnose davon abhängt, wann die Ärztin gefrühstückt hat.
Übrigens sieht man nach Lektüre dieses hochaufschlussreichen Buches die Voraussagen der super selbstbewussten, super medienbewussten (und super danebenliegenden) Coronamodelliererinnen und -modellierer mit anderen Augen. Da war viel Rauschen drin.