Eine Schaufel Sand nach der anderen füllen die Männer in Schytomyr in weiße, reißfeste Plastiksäcke, um daraus Straßensperren zu errichten. Foto: StN/Feyder

Gefahr in zivil: Russische Saboteure kundschaften ukrainische Stellungen aus – zur Tarnung auch aus geklauten Krankenwagen. Unser Reporter berichtet aus der Ukraine.

Schytomyr - Sein Jagdgewehr mit dem monströsen Zielfernrohr hat Vasyl auf einen Rucksack gebettet. Den Lauf durch die mikrowellengroße Öffnung in den weißen Wall geschoben, den er mit den Männern von Schytomyr am Stadtrand aus Sandsäcken aufgetürmt hat. In Richtung Feind. In Richtung Russen.

 

Fast überall in der Ukraine sind Straßensperren entstanden, an denen mitunter wild aussehende Kerle Autos anhalten, Insassen und Ladung kontrollieren. Ein gelbes Klebeband um den rechten Oberarm gibt ihnen das Recht dazu, seit der russische Präsident Wladimir Putin am vergangenen Donnerstag seine Armee auf das Nachbarland Ukraine hetzte. Manchmal verstärken eine Handvoll Soldaten oder Polizisten die Milizionäre. Ihr Auftrag: Sie sollen zivil gekleidete Saboteure und zunehmend auch Deserteure stellen, dingfest machen, bei Widerstand erschießen.

40 000 Euro für den Seitenwechsel

„Trefft eure Wahl. Kommt ohne Waffen und mit weißer Flagge heraus!“, schrieb Verteidigungsminister Olexij Resnikow in der Nacht zum Dienstag bei Facebook. Russischen Soldaten bietet die Ukraine Straffreiheit und Geld an, wenn sie sich ergeben: umgerechnet mehr als 40 000 Euro. Finanziert werde die Aktion von der internationalen IT-Industrie. „Jeder, der sich weigert, ein Besatzer zu sein, bringt den Frieden näher. Für diejenigen, die den Weg des Besatzers wählen, wird es keine Gnade geben!“, versichert Resnikow. Ukrainischen Angaben zufolge sollen bisher mindestens 200 russische Soldaten gefangengenommen worden sein. Verhörvideos nach zu urteilen, sollen sie geglaubt haben, an einem Manöver teilzunehmen – tatsächlich aber zum Kämpfen in die Ukraine geschickt worden sein.

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Am sechsten Tag der Invasion berichtet die US-Satellitenfirma Maxar am Dienstag, im Norden der ukrainischen Hauptstadt sei ein russischer Militärkonvoi von 64 Kilometer Länge zusammengezogen worden. Heftiger Beschuss und ein Angriff auf den Fernsehturm in Kiew wurden am Dienstagabend gemeldet. Sowie Angriffe in Charkiw und der Hafenstadt Mariupol. Laut dem Verteidigungsministerium in Moskau hat das ukrainische Militär mittlerweile keinen direkten Zugang mehr zum Asowschen Meer.

Soldaten und Einwohner stellen sich der russischen Offensive entgegen

„Die Russen stehen im Norden und Westen der Hauptstadt”, weiß Vasyl – und fasst damit mit einfachen Worten das Versagen Putins zusammen. Der hatte am Donnerstag mit zwei Heeresgruppen die Ukraine angegriffen. Im Süden und Osten die, bei der Soldaten ein Z auf Panzer, Geschütze und Lastwagen gemalt hatten. Ihr Ziel: im Osten in den Donbas angreifen, im Süden von der besetzten Krim aus eine Landverbindung zu den russisch besetzten Gebieten um Luhansk und Donezk schaffen.

Von Norden und Nordosten griff die zweite, mit einem O gekennzeichnet Heeresgruppe an. Sie sollte an Städten und Dörfern vorbei auf Kiew zustoßen, die Stadt einkesseln und in sie eindringen. Der Plan schlug fehl: In Charkiw verbluten die russischen Angreifer ebenso wie in den nördlichen Vororten von Kiew im blutigen Häuserkampf. Soldaten und Einwohner stoppen ein ums andere Mal die Offensive.

Neues Ungemach zeichnet sich ab

Und zwangen so die Generäle, die als Reserve zurückgehaltene, mit V gekennzeichnete Heeresgruppe, sich in die Schlacht zu werfen. Diese Verbände stoßen im Moment zwischen Kiew und Schytomyr auf die strategische wichtige Fernstraße M 06 vor und stehen nur wenige Kilometer nördlich von ihr. Fällt sie in russische Hände, ist eine der wichtigsten ukrainischen Nachschublinien unterbrochen, wird die Flucht für Hunderttausende noch beschwerlicher.

Zumal sich im Dreiländereck Belarus, Ukraine, Polen neues Ungemach abzeichnet: Dort sind russische und belarussische Fallschirmjäger aufmarschiert, melden polnische und ukrainische Offizielle unisono. Greifen sie nach Süden entlang der polnischen Grenze in Richtung des 300 Kilometer entfernten Lwiw (auf Deutsch: Lemberg) an, kappen sie die wichtigste Nachschub- und Fluchtroute der Ukraine.

Mit Sand und Plastiksäcken gegen die Angreifer

„Die Autobahn darf den Russen nicht in die Hände fallen”, schwört Anfrij in Schytomyr seine Milizionäre ein, zu denen auch Vasyl gehört. Vom Rücken der Männer dampft es trotz Eiseskälte in weißen Wölkchen. Eine Schaufel Sand nach der anderen wird in weiße, reißfeste Plastiksäcke gefüllt. Andere hieven halb mannshohe Betonquader auf die Straße, andere schleppen mit Stacheldraht umwundene Stahlgerippe herbei, die in Schlossereien zusammengeschweißt wurden. So entsteht ein für Autos und Lastwagen unüberwindliches Hindernis: Am linken Straßenrand der erste Betonriegel, fünf Meter nach vorne versetzt und überlappend am linken Rand der zweite, der dritte wieder fünf Meter versetzt am rechten Rand.

Im inneren der kleinen Burg sind in Kisten Molotowcocktails gelagert. Am Stadtrand von Lwiw werden in einer Brauerei von Frauen, Alten und Kindern Flaschen zu Tausenden mit dem Brenngemisch befüllt, das entzündet auf Panzer geworfen werden soll, um diese zu zerstören.

Weit größere Gefahr aber geht derzeit für die Männer um Andrij von den russischen Saboteuren aus, die man glaubt, überall im Land zu sichten. Fest steht: Es gibt in den Reihen der Invasionskräfte speziell ausgebildete Soldaten, die sich zivil gekleidet unters Volk mischen. Ihre Aufgabe: Sie kundschaften ukrainische Stellungen aus, melden deren Koordinaten an Luftwaffe und Artillerie weiter. In manchen Stadtteilen schießen sie kurz um sich, werfen Handgranaten und wollen so Panik in der Bevölkerung auslösen. Um rasch zu entschwinden, missbrauchen sie gekaperte Krankenwagen und gestohlene Autos.

Kein Erbarmen mit russischen Saboteuren

Werden sie gestellt, haben sie wenig Erbarmen zu erwarten: Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie sie von wütenden Milizionären aufgebracht und erschossen werden. Beides ist mit dem Kriegsvölkerrecht nicht zu vereinbaren.

Andrij hingegen setzt darauf, Saboteure und am besten gleich die ganze russische Armee zu verwirren: Der 32 Jahre alte Lehrer hat – wie viele lokale Kommandeure im Land – Ortsschilder vom Straßenrand entfernen lassen. Hinweisschilder zeigen jetzt oft in falsche Richtungen. Bei anderen wiederum sind bestimmte Ortsnamen übermalt oder mit schwarzer Folie überklebt. „Unser Generalstab weiß, dass viele russische Einheiten keine Landkarten haben, um sich zu orientieren. So können wir sie erfolgreich in Fallen locken“, erklärt Andrij.

Offenbar erfolgreich: Im Norden Kiews, in Charkiw und Mariupol sollen so ganze Panzer- und Infanteriekompanien – um die 100 Mann und 13 bis 15 Panzer stark – in Hinterhalte gelockt und vernichtet worden sein. Im Internet wird ein Video zum Quotenstar, in dem ein Bauer zu sehen ist, der einen wegen Spritmangels liegengebliebenen Schützenpanzer an seinen Trecker hängt und ihn den verblüfften russischen Soldaten einfach stiehlt.

Andrij, Vasily und ihre Mitkämpferinnen und Mitkämpfer haben ihre Stellung am Stadtrand von Schytomyr fertig gebaut. Sie tätigen nur noch letzte Handgriffe: Die weißen Sandsäcke werden mit Erde oder dunklen Vorhängen beschmiert. Etwa 50 Meter vor der Kontrollstelle werden Laub-, Heuhaufen und Reifen aufgeschichtet. „Kommt der Feind, zünden wir die an“, sagt der findige Pädagoge, der zwar einmal fünf Jahre in der Armee diente, dann aber bis zum vergangenen Donnerstag Englisch und Geschichte unterrichtete.