Normalerweise werden Models fotografiert. Der Fotograf Uwe Ditz hat sie selber an den Auslöser gelassen.
S-Süd - Der Fotograf Uwe Ditz aus dem Stuttgarter Süden hat in seinem Fotoprojekt „Raw Selfies“ Models sich selbst ablichten lassen – ohne Spiegel, dafür mit hochauflösender Kamera und Selbstauslöser. Das gleichnamige Buch dazu ist nun erschienen.
Die sozialen Medien sind voller Selfies. Haben Sie deshalb das Thema aufgegriffen?
Selbstbildnisse durchziehen die Kunstgeschichte; je nach Zeitkontext – und Geld – stellten sich Menschen gerne selbst dar. Heute geht es demokratischer zu, statt Pinsel wird nun das Handy gezückt, um sich zu dokumentieren oder zu inszenieren. Die Künstlerin Cindy Sherman tut das mit Kamera auf grandiose Weise. Bei der Recherche merkte ich, dass Selfies bisher fast nie mit einer hochauflösenden Großformatkamera bearbeitet wurden, die besser als das Auge jedes Detail registriert. Und nichts dokumentiert das Lebensgefühl der neuen Generation so treffend wie das Selfie.
Das kann laut Psychologen dem Narzissmus Vorschub leisten.
Selfies sind sicher zwiespältig zu sehen. Warum permanent mein Essen posten? Es ist ein Medium der Selbstdarstellung, das den Wunsch des „15 Minuten Ruhms“, von denen Andy Warhol schon sprach, erfüllen mag. Aber es ist auch die nie dagewesene Chance im selben Moment hier und dort zu sein. Wer ein Foto teilt, kann überall sein, sich mit anderen rund um den Globus verbinden. Apropos, als ich bereits etwa 80 Prozent der Raw Selfies im Sommer 2015 abgeschlossen hatte, entdeckte ich in einer südfranzösischen Galerie die Selbstporträts der südkoreanischen Künstlerin Jee Young Lee. Ich kaufte zwei Werke – das bestärkte mich in meiner Arbeit.
Dafür wählten Sie Fashion Models, die gewohnt sind, vor der Kamera zu posieren und mitunter die Welt mit Selfies versorgen. Warum?
Klar hätte ich normale Menschen auf der Straße ansprechen können. Aber mehrere Dinge interessierten mich. Models kennt man in Designerklamotten, mit Make-up und frisiert – Styling ist auch immer Verkleidung. Doch dahinter verbirgt sich ein Mensch – den wollte ich hervorlocken, sehen, wie er zuhause ist als Individuum. Die Mädels sollten ungeschminkt und in eigenen Kleidern kommen, etwa im Lieblingsshirt, eben wie sie sich wohlfühlen. Die Aufnahmen entstanden in Wohnungen, in denen die Frauen übernachten, wenn sie für Shootings unterwegs sind.
Welche Anweisungen haben Sie gegeben?
Ich führte mit jeder ein Gespräch über Kreativität. Sie sollten sich überlegen, was sie vor der Kamera umsetzen wollten. Manchen Mädchen ist das megaleicht gefallen, andere brauchten Anregungen. Bei einem Handybild sieht man sich in der Frontkamera selbst. Manche machen Selfies vor dem Spiegel. Das Außergewöhnliche war, dass die Models sich nicht bei der Aufnahme sahen. Ich gab die Kontrolle an die Mädchen ab, die wiederum intuitiv agieren mussten. Es sollte eben kein Fashion-Foto, sondern ein Selbstporträt werden, das aus dem Inneren heraus entsteht.
Manche der Models scheinen dennoch zu posieren.
Da kamen die verschiedenen Charaktere zum Vorschein. Während die einen total locker waren, sich trauten loszulegen, brauchten andere wesentlich mehr Zeit, aus dem auszubrechen, was sie beruflich gewohnt sind, etwa aus der ständigen Frage, ,seh ich gut aus?‘. Wenn das klappte, entstanden mitunter Sachen, mit denen ich nicht rechnete. Da wurde getanzt, gesprungen, über dem Sofa geschwebt. Übrigens, alle Modelle, die mir von den internationalen, sehr kooperativen Agenturen vermittelt wurden, wollten mitmachen, obwohl sie erst kurz vor dem Shooting erfuhren, dass sie mit einer hochauflösenden Kamera und Selbstauslöser agieren mussten.
Warum haben Sie internationale statt hiesige Models gewählt?
Ich wollte den Heimvorteil vermeiden und in die Standorte der Mode eintauchen, Mailand und Paris. Letztlich sind die Fotos vor allem in Mailand entstanden, da laufen alle Fäden zusammen.
War es schwer, als Fotograf die Zügel aus der Hand zu geben?
Ja, am Anfang! Selbst fotografierend hat man die Möglichkeit, das Model zu leiten. Mein Team und ich sorgten für die Grundeinstellungen, während der Aufnahmen waren wir im Nebenzimmer. Nach eineinhalb Stunden haben wir lediglich die Einstellungen der Kamera kontrolliert. Die Lichterverhältnisse änderten sich ja nicht, da wir unser eigenes Licht aufgebaut hatten wie bei einem Filmsetting. Pro Modell dauerte das Shooting etwa dreieinhalb bis sechs Stunden. Entstanden sind jeweils zehn bis zwanzig Bilder in drei unterschiedlichen Einstellungen. So war es auch für uns spannend bis zum Schluss.
Haben Sie die Aufnahmen nachbearbeitet, wie das bei Modefotos üblich ist?
Nein, höchstens einen Pickel verkleinert. Wir wollten etwas Ehrliches, Natürliches, auch hinterfragen, was Ästhetik, Authentizität und Identität bedeutet – daher der Titel „Raw Selfies“. Den Mensch hinter der Maske zu entdecken, das bedeutet auch das Individuum zu respektieren, als Teil einer diversen Gesellschaft.