Manfred Nagl sammelt Kindermedien. Foto: Factum /Weise

Würden Kinder Oliver Twist noch kennen, wenn es keine Hörbücher gäbe? Hat die Entwicklung von der Platte zur Datei Einfluss auf unseren Musikkonsum? Medienwissenschaftler Manfred Nagl wirft diese Fragen mit seiner Kindermediensammlung auf.

S-Nord - Schatzkammern stellt man sich anders vor. Jedenfalls nicht so wie den schmucklosen Kellerraum der Vaihinger Hochschule der Medien (HdM). In der Außenstelle in der Wolframstraße im Bezirk Stuttgart-Nord riecht es muffig nach altem Papier. Neonröhren streuen grelles Licht über die Regalmeter. Die quietschbunten Hüllen der Schätze, die doch eigentlich den Kunden locken sollen, sie wirken bleich und stumpf. Häuptling Winnetou sieht auf der Plattenhülle von „Winnetous Tod“ bereits vor seinem Ableben ganz malad aus. Nur das Rot der Kinderradios ein Regal weiter leuchtet tapfer gegen das Neonlicht an. Eine ganze Kollektion – Exponate von den 70er-Jahren bis heute – stehen in einer Kiste. Manfred Nagl greift sich einen Rekorder heraus. „Erstaunlich, oder? Es hat schon früh Radios und Plattenspieler extra für Kinder gegeben. Aber erst Mitte der 70er-Jahre fing man an, sie auch im Design kindgerecht zu gestalten“, sagt er, emeritierter Professor für Medienwissenschaft und Popularkultur an der HdM. Nagl geht weiter und deutet auf einen wuchtigen Koffer, „So sahen Kinderplattenspieler in den 50er-Jahren aus.“

4000 Objekte hat Nagl seit den 80er-Jahren gesammelt

Es ist kein Hobbykeller, den sich Nagl für einen hohen fünfstelligen Betrag – bezahlt aus der eigenen Tasche – in der HdM-Außenstelle eingerichtet hat. Vielmehr lagert in der Wolframstraße ein Großteil der 4000 Objekte der Sammlung „Kindermedienwelten“. Seit den 80er-Jahren sammelt Nagl auf eigene Faust, war viele Jahre Stammgast auf Flohmärkten in Stuttgart und Freiburg. Kinderplattenspieler und Lurchi-Werbeheftchen, verstaubte Laternae Magicae und Brettspiele zur Verkehrserziehung aus Wirtschaftswunderzeiten – was für andere kaum noch Wert hat, zieht Nagl magisch an. „Wir Medienwissenschaftler untersuchen immer die Inhalte. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich mit der Hardware?“ Wie hat beispielsweise der Wechsel von der Schallplatte zur CD unseren Alltag verändert?

Allerdings: Auslöser seiner Sammlung von Kindermedien war ein Medium für Erwachsene: die Musik-CD. Als Mitte der 80er-Jahre die Compact Disk auf den Markt kam, war der Jubel groß – nur Musikliebhaber Nagl war unzufrieden. Plötzlich gab es weder Vor- noch Rückseiten, nur noch kleine Plexiglashüllen statt großer Cover. „Seelenlos“, urteilte er über die Marktneuheit. Heute ist die CD bereits von gestern. Jetzt hört man Musik in Form von Files, auf einem Stick in nahezu unbegrenzter Zahl speicherbar. „Das ist praktisch, auch ich nutze das“, sagt Nagl offen. Aber: „Files kann man nicht lieben, Platten schon.“ Sinkt die Achtung vor dem Urheberrecht der Künstler deswegen, weil Files im Gegensatz zu Platten nicht mehr mit Händen zu greifen sind?

Auslöser war der Wandel von der Platte zur CD

Die Frage nach der Bedeutung der Hardware für Musikübertragung trieb den Medienwissenschaftler um. Würden Kinder heute noch Oliver Twist kennen, wenn es keine Hörspiele gäbe? „Als Buch liest das doch keiner mehr.“ Er suchte nach Informationen, fragte in Archiven nach und kam zu dem unerwarteten Ergebnis: Der Ursprung der Schallplatte ist die Kinderschallplatte. Sie kam bereits vor der Jahrhundertwende in der Schule, beispielsweise für Singspiele, zum Einsatz. In der Vorweihnachtszeit versicherte die Werbung Müttern aus gutem Hause, dass der Kauf einer Platte das Beste sei, was sie für ihre Kinder tun könnten. „Der Bildungsaspekt eines Spielzeugs war damals genauso wichtig wie heute“, erklärt Nagl das Phänomen. Denn Frauen aus dem Bürgertum hatten bis weit ins 20. Jahrhundert oft eine gute Allgemeinbildung, aber keinen Beruf, weswegen sie ihre Energie in die Erziehung ihrer Kindern steckten. „Pädagogische Argumente für ein Spielzeug zogen schon damals.“ Die Kinderhörspiele wurden vielfach von bekannten Schauspielern gelesen. „Das brachte dem jungen Medium Reputation“, erklärt Nagl.

Kinderschallplatten sind Medien für Kinder. Was gehört noch dazu? Nagl erweiterte seine Fragestellung. „Ein Kindermedium ist etwas, wovon ein Kind lernen kann“, definierte er. Und Kinder lernen nicht nur durch Bücher und Schallplatten. Auch Filme sind für Kinder nicht allein Unterhaltung, sondern Informationsträger. Nagl forschte nach und fand heraus, dass um die Jahrhundertwende das Kinopublikum vor allen Dingen aus Kinder bestand. Ob die Filme auch entsprechend kindgerecht waren, ist dann eine ganz andere Frage. Tatsache ist, dass sich vor den Rummelplatzbuden vor allem Kinder drängten, um auf Einlass für eine Filmvorstellung zu warten.

In den Archiven gibt es wenig

Die Informationssuche gestaltete sich aber mühsamer als gedacht. Im Deutschen Musikarchiv in Berlin gibt es eine Handvoll Kinderplatten – „dabei hat es doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg Tausende verschiedene Titel gegeben“, wundert sich Nagl. Gut erforscht ist die Geschichte des Kinderbuchs. Kaum erforscht dagegen sei, mit welchen anderen Medien Kinder früher aufwuchsen. „Dabei waren sie wichtig“, sagt Nagl. „Es gab schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hunderte von kostenlosen Zeitschriften für Kinder. Sie haben den Alltag von Generationen geprägt.“

Um Beispiele dafür zu finden, muss man Stuttgart kaum verlassen. Lurchi, das Maskottchen des Schuhherstellers Salamander aus Kornwestheim, ist auch heute noch fast jedem ein Begriff. Aus einer Werbefigur entstand ein Medienverbund. Es gab kostenlose Heftchen mit Lurchis Abenteuern, Lurchi-Hörspiele und Lurchi-Figuren.

Produktimperium Breuni-Bär

Ebenfalls ein kleines Produktimperium entwickelte sich um Breuni, den Werbebären des Stuttgarter Kaufhauskonzerns Breuninger. „Hier“, ruft Nagl und angelt aus einer Kiste eine Schallplatte mit einer Abenteuerepisode der plüschohrigen Comic-Figur. Auf der Vorderseite fliegt Breuni auf einem Teppich in eine aufregende Zukunft. Auf der Rückseite wünscht das Kaufhaus unter dem Slogan „Großzügig, modern, solide“ den Breuni-Fans viel Spaß beim Hören. Es wurmt Nagl, dass er ausgerechnet zu Breunis Geschichte kaum Informationen hat. Wann wurde er eingeführt? Warum wirbt das Unternehmen jetzt nur noch ganz verhalten mit Breuni? Das Unternehmen zeigt sich bislang wenig auskunftsfreudig. „Schicken Sie mal eine E-Mail“, riet man Nagl vor fünf Jahren. Nur so viel weiß der Medienwissenschaftler: Breuni lebt. Einer Frau aus Esslingen kaufte Nagl vor einem Jahr eine Tüte mit einem Breuni-Aufdruck ab. Diese hatte sie auf einem Gewinnspiel im Breuninger-Land in Ludwigsburg geschenkt bekommen.