Der Münchner Hauptbahnhof ist weitgehend abgerissen – doch Bahnreisende bekommen davon wenig mit. Foto: DB

Die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München ist bei Kosten und Bauzeit rekordverdächtig aus dem Ruder gelaufen. Warum bleiben die Bayern im Vergleich zu Stuttgart 21 so nonchalant?

Wer sehen will, wie in München die Milliarden verbuddelt werden, der muss beim Rathaus ums Eck. Dort steht ein virtuell begrünter Bauzaun mit Bildern glücklich flanierender Menschen rund um eine fußballfeldgroße Baufläche. Doch die teuerste Baustelle Deutschlands ist kaum zu erahnen. Vierzig Meter unter der Erde werden an der neuen S-Bahn-Station Marienhof die Bahnsteige liegen. Für den Fahrgast heißt das mehrmals umsteigen – gleich vier lange Rolltreppen hinab in die Tiefe.

 

Die akribische Sicherheitseinweisung samt Sauerstoffgerät gibt vor der Besichtigung einen Eindruck davon, wie komplex hier gebaut wird. „Die einzelnen Bauverfahren sind bekannt und bewährt – aber in diesem Zusammenspiel ist das schon einmalig“, sagt Robert Listl, DB-Projektleiter für die Station Marienhof. Beim Bau ist man erst bei der dritten von fünf unterirdischen Etagen angelangt.

Gleich drei weitere Tunnelsysteme von S- und U-Bahn verlaufen in unmittelbarer Nachbarschaft. Die neue S-Bahn-Station muss sich darunter und dazwischen zwängen. Es dürfte noch fast eineinhalb Jahrzehnte dauern, bis man hier hinunter zu den Bahnsteigen kommt. Denn für die Tunnelbohrmaschinen, die den eigentlichen, zweiten S-Bahn-Tunnel zur Entlastung der alten Strecke von 1972 bohren sollen, gibt es nicht einmal Baurecht.

Völlig aus dem Ruder gelaufen

Es ist zurzeit das deutsche Großprojekt, das am meisten aus dem Ruder läuft, obwohl der Hauptbahnhof oben bleibt und nur sieben Kilometer Tunnel den 57 Kilometern für Stuttgart 21 gegenüberstehen. 7,2 Milliarden Euro plus Risikopuffer von 1,5 Milliarden Euro lautet die seit Sommer 2022 Jahres vorliegende, aktuelle Schätzung der Deutschen Bahn – auf einen Schlag eine Kostenverdoppelung. Im Vergleich zur Vertragsunterzeichnung 2011 ist das Projekt viermal so teuer geworden. Damit ist München neuer deutscher Rekordhalter: Bei Stuttgart 21 hat man eine Verdoppelung auf 9,79 Milliarden Euro in Kauf nehmen müssen. Selbst am Berliner Flughafen BER haben sich die Kosten „nur“ verdreifacht. Und anstatt wie ursprünglich geplant 2022 fertig zu sein, könnte es nun 2034 oder gar 2037 werden. In Bayern hat die Frage, ob die Staatsregierung die Kostenexplosion lange vertuscht hat, immerhin für einen Untersuchungsausschuss im Landtagswahljahr gesorgt.

Für Stuttgarter gibt es viel Déjà-vu: Da ist ein visionäres, die Stadt für Jahrzehnte prägendes Milliardenprojekt, dessen Kosten- und Zeitplan alle Prognosen sprengt. Da sind unterirdische Stationen, deren Machbarkeit die Kritiker anzweifeln. Da gibt es Streit unter Bahnexperten, ob denn die Milliarden überhaupt die Kapazitäten bringen, die versprochen werden. Und da ist nicht zuletzt ein Hauptbahnhof, der ebenfalls völlig umgemodelt wird.

In Bayern bleibt man nonchalant

Wer aber dieser Tage von Stuttgart nach München fährt, der staunt, wie nonchalant man in der bayerischen Landeshauptstadt mit dem Projekt umgeht. Von einer Protestbewegung, ja von größerem Interesse an dem Projekt, ist keine Spur. Auch der politische Konsens, der von der CSU über die SPD bis hin zu den Grünen im Münchner Stadtrat reicht, ist zementiert. Und das sorgt wohl auch dafür, dass der Rest der Republik die massive Münchner Fehlkalkulation nicht so kritisch beobachtet wie die Hamburger Elbphilharmonie, den Berliner Flughafen oder den Bahnhof in Stuttgart. Bayern ist zwar mit gut einem Drittel der Kosten dabei, den Großteil der Zeche zahlt aber der Bund. Die Preußen sozusagen.

„Die Leute haben geschlafen“

„Die Leute haben geschlafen. Wir haben die Tatsache, dass Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis stehen und es bessere Alternativen gibt, nie verkaufen können“, sagt der Projektkritiker Wolfgang Hesse. Der IT-Experte war Gast auf Stuttgarter Montagsdemonstrationen – und hat die dortigen Projektgegner um ihre Mobilisierungsfähigkeit beneidet. Doch abstrakte Themen wie Baukosten und Streckenkapazitäten langweilen in München das Publikum.

Eine Baustelle versteckt sich

Die Unterschiede zu Stuttgart beginnen schon damit, dass die Großbaustelle am Münchner Hauptbahnhof sich vor dem Bahnfahrgast versteckt. Es gibt keine weithin sichtbare Baugrube und lästigen Umwege zu den Gleisen. Wer einen Eindruck davon bekommen will, dass das Nachkriegsgebäude weitgehend abgerissen und vollkommen entkernt wurde, der muss abbiegen und durch den Sichtschutz am Bauzaun spickeln.

Wie am Marienhof bekommt man aber auch am Hauptbahnhof keine Ahnung, wie aufwendig dort ebenfalls bis in 40 Meter Tiefe gebaut wird. Die Rampen der künftigen Zufahrt liegen ein ganzes Stück draußen an der S-Bahn-Station Donnersbergerbrücke. Selbst die Bäume sind in München kleiner: Am Marienhof musste ein kleiner Park für die Baustelle weichen. Doch die paar japanischen Schnurbäume waren kein Vergleich zu den alten Platanen und Pappeln im Stuttgarter Schlossgarten.

Kein Zündstoff wie bei Stuttgart 21

In München fehlt, was in Stuttgart zündete: Der Slogan „zwei Tunnel sind mehr als einer“ ist für die Öffentlichkeit plausibler als das Motto von Stuttgart 21, „acht unterirdische Gleise sind besser als 16 oberirdische“. Der Stuttgarter Kopfbahnhof funktionierte, in München ist die S-Bahn störanfällig. In der bayerischen Landeshauptstadt gibt keinen denkmalgeschützten Bahnhof oder eine Planung, die das Gesicht der Stadt verändert. Es gab nie einen Schwarzen Protest-Donnerstag wie in Stuttgart im Jahr 2010.

Martin Runge, Verkehrsexperte der Grünen im bayerischen Landtag und im Gegensatz zu den Parteifreunden im Münchner Stadtrat, ein harter Kritiker des Projekts, ist der Zorn anzumerken, dass nichts die Öffentlichkeit wachrüttelt. Vom „Absurdistan“ wettert er, er spricht von dreisten Lügen, Fälschungen und kollektivem Täuschungsverhalten. In Detailarbeit hat der gelernte Verkehrswissenschaftler die Annahmen der Bahn zerlegt. Aufgrund vieler Zwänge im übrigen Streckennetz sei die Kapazitätserweiterung durch den Tunnel nur minimal: „Das alles ist wie Stuttgart 21 – nur noch viel schlimmer.“ Permanente Umplanungen hätten alles verteuert. Wer auf die Karte blickt, der wundert sich in der Tat über die teils kurvige Strecke durch München. „Die Kosten-Nutzen-Rechnung kommt hinten und vorne nicht mehr hin.“ Für Runge gibt es nur ein Fazit: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“

Teure Umplanungen

Doch damit steht er in Bayern ziemlich allein. Nur im grün angehauchten Münchner Viertel Haidhausen hat sich vor einigen Jahren der Bürgerprotest formiert – sogar mitgetragen von den jetzt in der bayerischen Regierung koalierenden, konservativen Freien Wählern. Es ging den meisten aber nur um die vorübergehende Belästigung durch die geplanten Baustellen. Walter Heldmann, alteingesessener Haidhausener und Gegner der ersten Stunde, sinniert in einem alten Park, in Sichtweite des bayerischen Landtagsgebäudes Maximilaneum über verpasste Chancen der Protestbewegung: „Wegen der alten Bäume hier hat sich sogar die staatliche Verwaltung der bayerischen Schlösser kritisch zu Wort gemeldet“, sagt er. „Als die Leute begonnen haben, sich mit dem Projekt zu beschäftigen, haben sie erkannt, auf was für wackligen Füßen das steht.“ Doch die Baustellen in Haidhausen wurden durch Umplanungen abgeräumt. Und damit der Protest.

Politisch wenig Zündstoff

Und der Untersuchungsausschuss? „Kein Gewinnerthema im Wahlkampf“, so titelte jüngst die „Süddeutsche Zeitung“ – obwohl die Indizien sich verdichten, dass CSU-Ministerpräsident Markus Söder 2021 aktuelle Zahlen unterm Deckel hielt. „Wir stehen zu dem Projekt. Das ist unumkehrbar“, sagt auch die SPD-Verkehrsexpertin im Landtag, Ines Aures. Die Sozialdemokraten sind seit den Zeiten des Münchner SPD-Oberbürgermeisters Christian Ude, der das Projekt initiierte, felsenfeste Befürworter. Es geht ihnen nur darum, im Wahljahr den CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder zu piesacken: „Der kümmert sich sonst um jeden Nagel in der Wand. Warum nicht um dieses Projekt?“

Bewegliche CSU

Die CSU ist da beweglicher, weil ihr das schwarze Land im Zweifel wichtiger ist als das rote München. Unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer wurde 2012 sogar ein Projektstopp angedacht. Und der CSU-Verkehrsexperte im Landtag, Jürgen Baumgärtner, hat keine Scheu, die Schwächen des Projekts zu benennen. Der grüne Projektkritiker Runge sei ein kluger Kopf, sagt er jovial: „Es stimmt, dass er im Nachhinein in vielem recht hatte und bei der Bahn auf viel Arroganz gestoßen ist.“ Und als Vertreter einer echten Volkspartei umarmt er die Gegner: Man könne die von ihnen vorgeschlagenen Alternativen doch zusätzlich bauen. „Es ist völlig klar, dass die Stammstrecke nicht alles lösen wird.“

Von jetzt an müsse man die Dinge eben besser machen, mit klaren Verantwortlichkeiten und schlankeren Prozessen. München könne sogar Vorbild für die Republik werden. Die CSU will dafür die Bahn an die Leine nehmen: „Es kann ja nicht sein, dass derjenige, der baut, am wenigsten für die Folgekosten geradesteht“, sagt Baumgärtner. „Augen auf und durch“, so nennt er sein Prinzip: „Es ist doch klar, dass Infrastruktur Geld kostet.“