Der Wirtschaftsraum Stuttgart ist ein Jobmotor, viele pendeln mit dem ÖPNV aus dem Rems-Murr-Kreis in die Landeshauptstadt. Wie klappt das angesichts der massiven Einschränkungen der Bahn?
Es sind viele, die im Ballungsraum Stuttgart pendeln. Rund 24 000 Arbeitnehmer sind beispielsweise alleine in den Unternehmen in Fellbach beschäftigt. 19 000 Menschen pendeln täglich nach Fellbach ein, und 15 000 fahren von Fellbach aus los, um im Umland zu arbeiten. Die Firmen werben mit guter ÖPNV-Anbindung als Standortvorteil. Der Umstieg auf den ÖPNV ist auch angesichts der Klimakrise gewollt, das 49-Euro-Ticket, eine deutschlandweit gültige Monatskarte ab 1. Mai für den öffentlichen Personennahverkehr, wird eifrig beworben.
Doch im Alltag ist bei der Fahrt mit dem ÖPNV oft Nervenstärke gefragt. Regelmäßig kommt es bisher schon bei der Bahn und der S-Bahn zu Verspätungen und Zugausfällen. Nun kommt es richtig heftig. Ab 21. April bis Ende Juli sperrt die Deutsche Bahn zusätzlich zur bereits bekannten Sperrung der S-Bahn-Stammstrecke phasenweise Gleise und Strecken im Bereich Waiblingen/Bad Cannstatt sowie im zweiten Halbjahr im Bereich Vaihingen/Flughafen/Böblingen. Der Grund sind Kabelarbeiten im Zusammenhang mit dem Ausbau des Digitalen Knotens Stuttgart. Zumindest für die Phasen vom 21. April bis 12. Mai hat die Bahn das Fahrplankonzept und das Schienenersatzverkehr-Angebot mitgeteilt. Es ist unter https://www.vvs.de/bauarbeiten-digitalerknoten aufgelistet.
Für die Phase vom 12. Mai bis zum 29. Juli arbeitet die Deutsche Bahn „noch mit Hochdruck an den Ersatzfahrplänen“, heißt es dagegen immer noch. Nach wie vor steht nicht fest, wie die Alternativen organisiert werden. Auch auf Anfrage unserer Zeitung konnte ein Bahnsprecher nur mitteilen, dass die Planungen dazu noch liefen.
Ein Aktionsbündnis hat vor Kurzem gegen die Streckensperrungen am Stuttgarter Hauptbahnhof protestiert unter dem Motto: „Wir lassen uns nicht abhängen“. „Wir fordern, dass die Bahn ausschließlich nachts arbeitet, auch wenn das teurer wird, auch wenn Stuttgart 21 deswegen später in Betrieb geht“, sagte deren Sprecher Martin Poguntke im Interview dem SWR. Poguntke machte darin auch deutlich, dass er nicht glaube, dass der Ersatzverkehr funktioniere. „Die reine Katastrophe wird das sein“, sagt er. Die Bahn kündige an, sie wolle für die Busse eine Extraspur freihalten auf der Bundesstraße. Das führe dann zu entsprechenden Autostaus, so Poguntke.
Was sagen Betroffene?
Wie gehen Pendler im Rems-Murr-Kreis mit dieser Lage und den Aussichten um? Betroffene aus unterschiedlichen Berufen berichten aus ihrem Alltag. Für sie ist Homeoffice jedenfalls keine Option. Manche würden am liebsten aus Frust ganz aufs Auto umsteigen, manche wollen sich aufs Rad setzen.
Claudia Daiber: „Plane, in Waiblingen ein Rad zu parken“
„Ich pendle seit fast 20 Jahren“, sagt Claudia Daiber. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es mit der Bahn immer wieder Verspätungen, Ausfälle und kurzfristige Änderungen gibt. Seit dieser Woche laufe es gerade „normal“. „Zum Glück hatte ich vergangene Woche Urlaub“, sagt sie. Denn da hätte sie zwischen Schorndorf und Waiblingen wegen Gleisarbeiten den Schienenersatzverkehr nutzen müssen. Ende März fuhr die S-Bahn nur stündlich. „Jene Woche war eine Katastrophe“, sagt sie. „Die S-Bahn in Schorndorf hat wegen drei Minuten nicht auf den Zug aus Aalen gewartet“, erzählt Daiber. Sie hat Bilder gemacht, etwa am 28. März, als der Ersatzbus von Schorndorf nach Waiblingen hoffnungslos überfüllt war.
Daiber pendelt zwischen ihrem Wohnort nahe Schwäbisch Gmünd und ihrer Arbeitsstätte in Fellbach. Sie arbeitet dort im Hort der Maicklerschule. Täglich steigt sie in den Zug nach Waiblingen. Von dort geht es weiter mit der S-Bahn nach Fellbach. Das gehe in rund 40 Minuten, wenn es läuft. Doch das klappe immer seltener. Homeoffice ist keine Option für die Erzieherin. Ihr Arbeitgeber bietet ihr ein Jobticket.
Der Umstieg aufs Auto ist für sie außen vor. Sie hat kein Auto. „Für mich spielt der ökologische Gedanke eine wichtige Rolle“, sagt Daiber. Dass immer noch nicht klar ist, wie der Ersatzverkehr ab 12. Mai während der Streckensperrung zwischen Bad Cannstatt und Waiblingen aussehen soll, ist aus ihrer Sicht „eine Katastrophe“. Ihre Lösung: „Ich habe vor, ein Rad in Waiblingen zu parken und nach Fellbach zu radeln.“
Anna Broer: Man blickt nicht mehr durch, was gilt
Anna Broer ist doppelt betroffen von Einschränkungen beim Bahnfahren. Die 24-Jährige pendelt von Waiblingen nach Tübingen, wo sie Medienwissenschaft studiert. An zwei bis drei Tagen nimmt sie zunächst die S-Bahn bis Bad Cannstatt und steigt dort in den Regionalzug ein, der bis Tübingen rollt. Die Fahrtzeit liegt bei einer Stunde 15 Minuten – wenn alles rund läuft. Doch das klappte bereits in der Vergangenheit schon häufig nicht, sagt sie. Die S-Bahn ist ihrer Erfahrung nach aus verschiedensten Gründen immer wieder verspätet. Doch was jetzt kommt, das sei besonders schwierig. Nicht nur die S-Bahn wird ausgedünnt, auch Züge zwischen Stuttgart und Tübingen fallen aus.
„Ich bekomme von der Bahn 30 Euro Entschädigung, aber es geht ja darum, dass man verlässlich ankommt“, sagt Anna Broer. Die Kommunikation sei chaotisch und äußerst kurzfristig. „Man blickt nicht mehr durch, was gilt“, sagt sie.
„Ich war wahrscheinlich zu naiv und dachte wirklich, dass ich die Strecke an den wenigen Tagen mit dem ÖPNV machen kann“, sagt sie. Angesichts der unsicheren Aussichten und wenn die Vollsperrung ab Mitte Mai kommt, nimmt sie wohl das Auto ihres Partners, um nach Tübingen zu fahren. „Das sind einfach 60 Kilometer, da kostet einiges an Spritkosten, außerdem möchte man ja eigentlich das Autofahren für den Umweltschutz reduzieren.“ In Tübingen ein Zimmer zu mieten sei aufgrund der hohen Kosten keine Option. „Warum kann man keine andere Lösung finden als die Sperrung“, fragt sie, „die B14 oder B29 werden ja auch nicht monatelang gesperrt.“
Sabine und Norbert Anstett: Gemeinsam mit dem Rad ins Büro
Sabine und Norbert Anstett kommen am Dienstag kurz nach 19 Uhr am Fellbacher Bahnhof an, von da sind es nur noch ein paar Meter nach Hause in Schmiden. Sie wirken entspannt, obwohl beide einen langen Arbeitstag hinter sich haben. Das Ingenieurs-Ehepaar radelt morgens gegen 8 Uhr gemeinsam los, es geht übers Feld, bei Bauerle vorbei über den Sommerrain bis zum Mineralbad Berg.
Dort trennen sich ihre Wege. Norbert Anstett radelt weiter bis Vaihingen, seine Frau zu ihrem Büro nahe des Bopser. Abends geht es zurück. „Drei Mal bei gutem Wetter fahren wir“, erzählen sie, „im Winter deutlich weniger, weil es dann nass und glatt ist.“ Einmal in der Woche oder bei schlechtem Wetter nehmen sie die S-Bahn. Sie haben eine Vier-Tage-Woche. Angesichts der Streckensperrung überlegen beide, jeden Tag zu radeln. Es sind einfach rund 20 Kilometer, hinzu kommen einige Höhenmeter. Auf das Auto umzusteigen, ist für Norbert Anstett „definitiv keine Alternative“. Er stünde im Stau, das zehre an den Nerven und würde morgens in der Hauptverkehrszeit auch sehr viel Zeit kosten. Nicht nur für den Job, auch in der Freizeit für Besuche im Theater und Konzerte nutzen beide die Bahn. „Auch die Stadtbahn wird dann sehr voll sein“, sagt Sabine Anstett. Man könne gespannt sein, wie der Ersatzverkehr organisiert werde. „Wo sollen die Busse des Ersatzverkehrs am Fellbacher Bahnhof halten“, da seien viele Fragen offen. Ihr Konzept angesichts der Sperrungen: „Wir radeln lieber, das ist ein pünktliches und verlässliches Verkehrsmittel.“
Nicklas Santelli: Am liebsten aufs Auto umsteigen
Homeoffice ist für Student Nicklas Santelli keine Alternative. Er besucht vier Tage in der Woche die Präsenzveranstaltungen an der Hochschule in Stuttgarts Stadtmitte. Und als Werkstudent pendelt er zudem drei Mal in der Woche nach Möhringen ins Büro. Der 25-Jährige studiert im siebten Semester Wirtschaftsingenieurwesen. Wenn alles gut läuft, geht er zu Fuß fünf bis acht Minuten von zu Hause zum Fellbacher Bahnhof, steigt in die S-Bahn, ist in 14 Minuten Fahrtzeit in der Stadtmitte und läuft zur Hochschule. Eine halbe Stunde Anfahrt ist das in etwa. „In Fellbach haben wir den Vorteil, das wir die S2 und die S3 nehmen können“, sagt er.
Doch Santelli weiß aus Erfahrung, dass die S-Bahn immer wieder verspätet kommt oder ausfällt, aus verschiedensten Gründen. Die Stadtbahn, die er von der Haltestelle Esslinger Straße erreicht, sei zuverlässiger, die Fahrt daure aber nach Möhringen etwa doppelt so lange wie mit der S-Bahn. Mit seinem Studi-Ticket hat er ein Halbjahresabo für die Bahn. Das Parken an der Hochschule sei zu teuer, daher auch keine dauerhafte Alternative. Der Student macht keinen Hehl daraus, dass ihm die „konsequente Unzuverlässigkeit“ der S-Bahn den Kragen platzen lässt.
„Jeden Tag muss man sich drauf einstellen, dass etwas anderes ist“, sagt er. „Laufend muss man puffern und viel früher los, wenn ein wichtiger Termin ansteht“, kritisiert er. „Am liebsten würde ich komplett aufs Auto umsteigen, weil ich die Nase voll habe von der konsequenten Unzuverlässigkeit“, sagt der 25-Jährige. „Mit der Streckensperrung wird sicher alles noch bescheidener.“