Grundstückseigentümer, unter deren Fläche ein Tunnel verläuft, könnten für diese Beeinträchtigung bis zu 20 Prozent mehr Geld erhalten. Müssen am Ende die Gerichte entscheiden?
Stuttgart - Das Bahnprojekt Stuttgart 21 soll Ende 2025 abgeschlossen werden. Für Bau und Betrieb, auch der weiteren Strecke nach Ulm, greift der Schienenkonzern nach eigenen Angaben in 7500 Flurstücke ein. Die Eigentümer können dafür, je nach Belastung, eine Entschädigung erhalten. Beim Tunnelbau liefert der Bahn seit Oktober 2012 ein von ihr beauftragtes Gutachten der Freiburger DIA Consulting AG die Berechnungsgrundlage.
Die Frage ist allerdings, ob die Annahmen im Gutachten richtig sind. Es gibt inzwischen begründete Zweifel. Im Streitfall entscheidet das Regierungspräsidium Stuttgart (RP). Der Fokus der Behörde lag bei widerstrebenden Eigentümern zunächst auf der sogenannten vorzeitigen Besitzeinweisung – also auf Eilverfahren, damit die Bahn bauen konnte. Über die Höhe der Entschädigung und den Grundbucheintrag sei dabei nicht entschieden worden, so das RP auf Anfrage. Der Eintrag sichert die Bauwerke der Bahn gegen mögliche Beeinträchtigungen ab, zum Beispiel durch Baumaßnahmen der Grundstückseigentümer.
Einige Eigentümer sperren sich
Jetzt geht es für das RP um endgültige Entscheidungen und um die Enteignung teils sperriger Eigentümer. Eine niedrige zweistellige Zahl an Enteignungsverfahren stehe zur Entscheidung an. Im Enteignungsausschuss des RP wird um viel Geld gerungen. Eine Entscheidung werde „in den nächsten Wochen ergehen“, so die Behörde. Inhaltlich äußere man sich nicht. Dabei könnte das Regierungspräsidium viel zum DIA-Gutachten der Bahn sagen. Zum Beispiel dies: Diverse Annahmen und Ableitungen im Gutachten der Bahn seien „nicht nachvollziehbar“, „nicht nachvollziehbar begründet“, „nicht vertretbar“ oder „nicht einsichtig“. So steht es in einem Gutachten des Frankfurter Sachverständigen Jakob von Allwörden, in das unsere Zeitung Einblick nehmen konnte.
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Allwörden ist vom Regierungspräsidium beauftragt worden. Das RP folgte seiner sehr kritischen Bewertung. Er erhielt einen zweiten Auftrag für ein eigenes Rahmengutachten, „um letztlich die angemessene Entschädigungshöhe sachgerecht ermitteln zu können“, so das RP. Man werde nun entscheiden, „inwieweit dieses Rahmengutachten zum Tragen komme“. Das Regierungspräsidium bleibt im Ungefähren.
Einzelfall mit 20 Prozent mehr
Dass die Entschädigungen höher ausfallen werden als im Gutachten der Bahn beabsichtigt, ist für den Stuttgarter Rechtsanwalt Armin Wirsing keine Frage mehr. „Das DIA-Gutachten rechnet für die Bahn die Entschädigungen nach unten“, sagt Wirsing, bei Allwörden gehe sie „tendenziell nach oben“. In einem von ihm vertretenen Fall handele es sich „nicht um Kleingeld“, sondern um eine mehr als 20 Prozent höhere Entschädigung für ein Grundstück in guter Lage. In den anderen Fällen könnten kleinere Zusatzbeträge auflaufen, die sich für die Bahn summieren würden. Wirsing erwartet letztlich einen Rechtsstreit. Bahn-Vertreter hätten sich für den Fall, dass das Regierungspräsidium das Rahmengutachten von Jakob von Allwörden heranziehe, entsprechend geäußert. Die Bahn verweist auf ihre Verschwiegenheitspflicht. Zu laufenden Verfahren könne man keine Stellung nehmen, so ein Sprecher.
Zuschläge zu gering?
Bereits 2016 wollten der Stuttgarter Haus- und Grundbesitzerverein und die DB Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm per Musterklage klären, ob die Entschädigungen mit dem DIA-Verfahren haltbar sind. DIA hat aus dem U-Bahn-Bau in München Stuttgarter Maßstäbe entwickelt und vier unterschiedliche Kategorien definiert. Die Entschädigung sinkt mit steigender Tunneltiefe, verharrt zwischen 15 und 30 Metern auf gleichem Niveau, sinkt dann weiter. Bei 60 Meter gibt es einen Bruch, zwischen 15 Metern und Geländeoberkante Zuschläge. Die erachtete Allwörden als deutlich zu gering.
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Die gerichtliche Klärung, auch vom damaligen S-21-Geschäftsführer Peter Sturm propagiert, fand nie statt. „Wir haben noch heute eine Rückstellung dafür, aber keinen Fall vor Gericht“, sagt Ulrich Wecker, Geschäftsführer von Haus und Grund. Es gebe wenig Beratungsbedarf zur Entschädigung, nur 171 Fälle seit 2012. Obwohl der Abstand zur Röhre zum Beispiel im Lindenschulviertel in Untertürkheim „sehr, sehr gering“ sei.
Auch die Stadt wartet
Ein Grund der Zurückhaltung könne darin liegen, dass die Bahn Eigentümern fünf Jahre Verjährungsfrist einräume, so Wecker. Vereinsvorsitzender Klaus Lang bewarb diese Lösung als „sichere Basis“. Würde die Entschädigung nach oben korrigiert, könnten Betroffene quasi automatisch profitieren, beruhigte Lang. Geklärt ist das nicht.
Zu den Betroffenen gehört auch die Landeshauptstadt mit 800 Grundstücken. Stadt und Bahn sind uneins. Die Verhandlungen über die „vertraglichen und wirtschaftlichen Konditionen für die Unterfahrung städtischer Grundstücke dauert weiterhin an“, teilt die Kommune auf Anfrage mit. Das sei für die Stadt kein Nachteil, da die Entschädigung bis zur Zahlung verzinst werde.