Gibt sich unbeeindruckt: Wladimir Putin. Foto: AFP/Gavriil Grigorov

Nach russischen Gebietsverlusten in der Ukraine gaukelt der Kreml Normalität vor. Doch der Ton in den TV-Sendungen hat sich verändert.

Plötzlich ist „Krieg“ im russischen Staatsfernsehen. Die „militärische Spezialoperation“, wie Russland seinen Überfall auf die Ukraine seit Februar euphemistisch bezeichnet, hat sich fast unmerklich aus dem Wortgebrauch der Propagandisten zurückgezogen. „Wojna“, sagt ein Soldat von der Front im Donbass, den ein Reporter des Staatssenders Rossija 1 in seinem Beitrag zeigt. „Wojna“, meint ein Fraktionsvorsitzender der Duma in einer Talkshow des staatsnahen Senders NTW.

Krieg. Ein Wort, das zu gebrauchen im Russland dieser Tage Strafermittlungen nach sich ziehen könnte. Doch seit der russischen Defensive in der Ukraine am vergangenen Wochenende ringt das Land samt seinen ultrapatriotischen Politikern, nationalistischen Militärexperten und gehässigen Fernsehmoderatoren nach Erklärungen. „Lebensbedrohlich“, „extrem gefährlich“, „Krieg ist eben Krieg“, heißt es in den Blogs und den TV-Sendungen.

Von Rückzug redet niemand

Von Niederlage und Rückzug sprechen sie freilich nicht. Dafür hat das russische Verteidigungsministerium andere Euphemismen in die Welt gesetzt. Im Gebiet Charkiw finde eine „Operation zur Verringerung und organisierten Verlegung der Truppen“ statt, sagt der Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow wie üblich roboterhaft. „Umgruppierung“ ist das neue Schlagwort, wenn es um die russische Strategie an der Front geht, die natürlich nicht „Front“ heißt. Diese sei nötig, um den Donbass „zu befreien“.

Der Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte am Montag ebenfalls, die „Spezialoperation“ werde so lange fortgesetzt, bis die „erklärten Ziele“ erreicht seien. Das Verteidigungsministerium redet von „schweren Verlusten“ der Ukrainer, nennt Zahlen gefallener Soldaten und verlorener Technik des „Feindes“. Was der offenbar hastige Rückzug der russischen Armee aus dem Gebiet Charkiw für Russland bedeutet, sagt offiziell indessen niemand.

Die Stimmen werden zunehmend hysterisch

Es herrscht „business as usual“, die russische Führung gaukelt den Menschen Normalität vor. Seit Beginn seiner „Spezialoperation“ hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Art Trennung gemacht: hier der gewohnte, ruhige Alltag der Menschen in Russland, dort die „Aufopferung“ russischer „Jungs“, um „die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“.

Dafür reden andere – und das fast schon hysterisch. Das Image des mächtigen Russland sei in Stücke gerissen, schreibt der nationalistische Journalist Jegor Cholmogorow. Die ruhmreiche russische Armee sei sogar gedemütigt, die Menschen im Donbass seien verraten worden. Ein Telegram-Nutzer namens „Spion, dem niemand schreibt“, nennt die „Ereignisse in Charkiw“ eine „Katastrophe“. Es sei eine „verbrecherische Verantwortungslosigkeit“ derer, die das befohlen hätten. Manche fordern die Verhaftung von Generälen wegen Hochverrats.

Der Ton in den russischen TV-Sendungen hat sich geändert. Plötzlich sind liberal eingestellte Politologen zu Gast in den Talkshows, die den Zuschauern erklären, dass Russland einen „Kolonialkrieg“ führe und damit sich selbst kaputtmache. Bei Rossija 1 versucht die Moderatorin Olga Skabejewa die Lage schönzureden. „Nichts Übernatürliches“ sei bei Charkiw passiert. Der Scharfmacher Wladimir Solowjow erinnert an die „schwierige männliche Arbeit einer Spezialoperation“ und meint: „Alle Panikmacher gehören erschossen. Wie unter Stalin.“