Rekrutierungsstation im Donezk Foto: Alexander Ryumin/TASS/dpa/Alexander Ryumin

Die Kritik an der russischen Militärführung wird lauter und schriller – sogar Atomwaffen sollen gegen die Ukraine eingesetzt werden. Russlands Bürger sind zunehmend beunruhigt.

Moskau arbeitet sich schnell und stur an seinem Programm des Landraubs ukrainischer Territorien ab. Hatte am Montag erst die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments, Änderungen in der Verfassung einhellig zugestimmt, so folgte am Dienstag, ebenfalls ohne Gegenstimme, der Föderationsrat, das Oberhaus des Parlaments. Die Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja nennt Russland nun „auf ewig“ russisch. Die Unterschriften unter die vier „Ratifizierungsverträge“ sind gesetzt. Bis zur vollen Umsetzung der Gesetze gilt eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2026.

 

Doch Präsident Wladimir Putins Traum von der „historischen Gerechtigkeit“ scheitert an der Realität. Auch wenn viele im Land diese Realität weiterhin verleugnen. Die Stimmung aber wandelt sich. Nach Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes FOM bezeichnen knapp 70 Prozent der Befragten die Atmosphäre mittlerweile als „beunruhigend“. Das sind doppelt so viele wie vor der Ausrufung der „Teilmobilisierung“, die die Russen als „Vollmobilisierung“ wahrnehmen. Moskaus „militärische Spezialoperation“ ist in den Familien angekommen. Die Menschen, die das Thema Krieg in den vergangenen sieben Monaten zu umgehen versuchten, reden über kaum etwas anderes mehr. Indirekt steht durch die Unzufriedenheit der Menschen auch die Autorität des Kremlschefs in Frage. Zudem werden die Falken des Regimes immer aufmüpfiger, wenngleich ihre Kritik Putin als Oberbefehlshaber noch verschont.

„Barfuß an die Front“

Ramsan Kadyrow, der ungehobelte Machthaber Tschetscheniens, warf einem hohen General militärisches Versagen vor und nannte öffentlich den „Nichtsnutz“ nach der Schlappe von Lyman, wo sich russische Streitkräfte Ende vergangener Woche offiziell auf „vorteilhaftere Linien“ zurückgezogen hatten, beim Namen: Alexander Lapin. Lapin ist einer der federführenden Regionalkommandanten, den Putin seit der Invasion im Gegensatz zu anderen Generälen nicht entlassen hatte. Er gilt als Putins Liebling und wird nun nicht mehr nur von Kadyrow offen angegangen. Jewgeni Prigoschin, der Gründer der Söldnergruppe „Wagner“, ätzte auf seinem Telegram-Kanal: „All diese Volldeppen sollen mit Sturmgewehren barfuß an die Front.“

Das ist durchaus als Alarmzeichen zu sehen, denn sowohl Kadyrow als auch Prigoschin betreiben mit ihren schlagkräftigen und treu ergebenen Privatarmeen gewissermaßen eigene Machtzentren innerhalb der russischen Streitkräfte. In der Ukraine haben sie mit ihren brutalen Methoden Erfolge vorzuweisen und könnten sich im Gerangel um Macht Vorteile zu verschaffen suchen – mit gewaltsamen Mitteln. Kadyrow hört nicht auf, laut nach dem Einsatz von Nuklearwaffen in der Ukraine zu fordern.

Kluft zwischen Inszenierung und Wirklichkeit

Auch etliche Militärblogger klagen über die „Unentschlossenheit“ an der Front in der Ukraine. Sie prangern den Mangel an Kommunikation zwischen den Einheiten an, beschweren sich über fehlende Verteidigungslinien und die viel zu spät ausgerufene Mobilisierung, die auch noch ungeordnet ablaufe. Die Kluft zwischen dem inszenierten Jubel aus dem Machtapparat und den Problemen mit der Antwort auf das „Wie weiter?“ wird immer größer.

Putin selbst holt lieber aus mit seiner verworrenen Darstellung von Geschichte als auf praktische Fragen zu reagieren. Wo Russlands Westgrenze verläuft, vermag niemand zu sagen. Faktisch kontrolliert Moskau den Grenzverlauf nicht. Wie es auch die Machtverteilung innerhalb der annektierten Gebiete bislang nicht klar geregelt hat.