Ukraine-Demo in Berlin. Am Donnerstagabend und in den folgenden Tagen finden verschiedene Kundgebungen in Stuttgart statt. Foto: dpa/Kay Nietfeld

Viele der hier lebenden Ukrainer reagieren verzweifelt über die russischen Angriffe. Sie halten engen Kontakt mit Angehörigen und Freunden, hoffen auf Ausreisemöglichkeiten und organisieren Hilfe. Aus der russischen Community dringt bisher wenig nach draußen.

Stuttgart - Alexander Shytiuk bekommt das Bild einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es ist das Erste, was er an diesem Donnerstagmorgen gesehen hat, als er gegen 6 Uhr morgens den Fernseher anschaltete: eine Rakete, die in ein Gebäude fliegt. Ob der Angriff in Kharkiv oder Kiew aufgenommen wurde, weiß er nicht mehr. Aber die Explosion hat sich bei ihm eingebrannt.

Ein Freund aus Odessa hatte den Ukrainer, der bei einem Stuttgarter Forschungsinstitut arbeitet, geweckt. „Mach den Fernseher an“, hatte der Freund nur gesagt. Der sitze in Odessa, wie alle, die der 30-Jährige in der Heimat kennt, auf gepackten Koffern. „Das ist nur der Anfang, das ist klar, das ist jetzt Krieg“, sagt Alexander Shytiuk.

Kein Hungergefühl an diesem Tag

Das Gespräch findet um die Mittagszeit statt. „Ich konnte bisher noch gar nichts essen“, sagt der 30-Jährige. Er muss arbeiten, doch es sei schwer, sich zu konzentrieren. Auch sein Vater ist wie er selbst im Schock. Obwohl sie eigentlich genau diese Eskalation befürchtet hatten. Doch sie hätten immer noch die Hoffnung auf eine Lösung gehabt. Diese Hoffnung ist gestorben. Jetzt überlegen sie, ob sie ihren Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen für den Vater nicht in einen Asylantrag umwandeln.

Für Liuba Melnitschuk begann der Donnerstag ebenfalls mit einem Anruf aus der Ukraine. „Heute Morgen hat mich meine Mutter angerufen. ,Unsere Heimatstadt wird beschossen‘, hat sie gerufen.“ Die russischen Angreifer hätten wohl den Militärflughafen zerbombt, der dort in der Nähe liegt, über die Grenze von Belarus kämen Truppen ins Land. „Jetzt versuchen meine Eltern – sie sind beide über 60 Jahre alt –, zu meinem 80-jährigen Opa aufs Land zu flüchten, solange die Busse noch fahren“, berichtet Liuba Melnitschuk. Sie ist verzweifelt. Eine offizielle Ausreisemöglichkeit gebe es nicht mehr, der Luftraum sei geschlossen worden, „aber ich möchte meine Familie auf jeden Fall zu mir nach Deutschland holen“, sagt die 37-jährige Sprachwissenschaftlerin, die 2007 mit ihrem Mann nach Deutschland kam. Nur für die Brüder wird sie wenig tun können: Sie seien beide zum Militär einberufen worden.

Laufend gehen Nachrichten auf dem Smartphone ein

Auch andere hier lebende Ukrainer sind im Schock. Kseniya Fuchs, Schriftstellerin, Künstlerin und Vorsitzende des Vereins Ukrainisches Atelier für Kultur & Sport in Stuttgart, spricht mit belegter Stimme: „Was man aus den Geschichtsbüchern kennt, findet jetzt statt: Krieg!“, sagt sie. Die 33-Jährige, die aus Donezk stammt und seit 2007 in Deutschland lebt, gibt sich gleichzeitig kämpferisch und entschlossen. Man werde alles unternehmen, „um den Krieg zu stoppen“. Von Stuttgart aus sammelt der Verein Geld für die Ukraine und versucht, Unterstützung zu mobilisieren. Während sie am Telefon erzählt, gehen aus verschiedenen Teilen der Ukraine persönliche Nachrichten bei ihr ein. In der Nähe von Kiew sei ein Kind durch Beschuss getötet worden, will sie erfahren haben. „Und gerade kommt die Nachricht: Odessa ist unter Beschuss!“

Der Pfarrer der Ukrainisch-Griechisch Katholischen Gemeinde in Stuttgart, Roman Wruszczak, ist ebenfalls ganz nah dran. Er betreut neben Ukrainern, die hier geboren und aufgewachsen sind, auch Studierende sowie Arbeiter, deren Familien noch in der Heimat leben. Viele haben Geschwister oder Verwandte in der Ukraine. Jetzt ist er mehr denn je als Seelsorger gefordert.

So aufgeregt, dass es schwer fällt zu sprechen

„Es ist schrecklich, es ist unerträglich – ich habe einfach nur Angst“, sagt eine Ukrainerin in Stuttgart, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Nicht um sich sorgt sich die 67-Jährige, sondern um ihre Verwandten. Ihr 45-jähriger Sohn lebt mit den beiden Enkelkindern in der Ukraine. Zum Glück im Westen des Landes. Sie sei so aufgeregt, dass sie Probleme mit dem Sprechen habe, sagt sie.

Seit 20 Jahren lebt 67-Jährige in Stuttgart. Gekommen ist sie mir ihrem Mann, der hier Arbeit gefunden habe. „Niemand weiß, was noch kommen wird“, sagt sie. In einer Stadt in der Nähe ihres Heimatorts habe es Explosionen gegeben. Etliche Familienmitglieder könnten berichten, was von den russischen Machthabern zu erwarten sei. In den 1930er Jahren seien sie nach Sibirien verschleppt worden. „Wir waren immer Antikommunisten, schon meine Großeltern“, erzählt sie. Als sie und ihr Mann 1989, als es die Sowjetunion noch gab, an Demonstrationen mit der blau-gelben Nationalflagge der Ukraine teilgenommen hätten, seien sie auch „von Polizisten und Soldaten verfolgt worden“. Und dennoch: Die 67-Jährige kennt auch in Stuttgart viele Russen, die mit ihr einer Meinung und für die Ukraine seien, „wenn auch nicht alle“. Aber sie betont: „Putin ist nicht Russland. Dort gibt es auch Millionen gutmütiger Leute.“

Was sagen Menschen mit russischen Wurzeln?

Wie sehen es die Menschen mit russischen Wurzeln? Max Kovalenko ist als Fotograf für unsere Zeitung unterwegs, er stammt aus Saratow, einer 800 000-Einwohner-Stadt an der Wolga, gut 400 Kilometer von Stuttgarts Partnerstadt Samara entfernt. Der 38-Jährige blickt besorgt auf die Bilder aus der Ukraine. Er zitiert das Sprichwort: Den Krieg wollte keiner, aber der Krieg war unvermeidbar. „Mir tun die Menschen auf beiden Seiten leid, die deshalb ihr Leben lassen, Soldaten und Zivilisten“, sagt Kovalenko. „Sie alle hätten heute etwas anderes mit ihren Familie unternommen.“

Kein Öl ins Feuer gießen will Roman Ramenski, 27, der Stuttgarter Bundesvorsitzende der Deutschen Jugend aus Russland. „Unsere Gemeinschaft muss nun Ruhe bewahren“, sagt er. „Es darf nicht sein, dass sich das alles nach Deutschland überträgt.“ Als junger Mensch, dessen Eltern 1994 aus Kasachstan kamen, habe er die Konflikte um die Ukraine eher nur am Rande wahrgenommen. Bis jetzt jedenfalls. Ein ukrainischer Freund sei erst jetzt wieder von dort zurückgekehrt. „Wir beide können nicht verstehen, was da passiert“, sagt Ramenski. „Wir haben doch dieselbe Mentalität und Geschichte.“