Erarta, das Museum für moderne Kunst, ist ein beliebtes Fotomotiv für Frischverheiratete in Sankt Petersburg. Foto: Hamann

Sankt Petersburgs Eremitage hat Konkurrenz bekommen. Ein Tempel der modernen Kunst namens Erarta zieht die Einheimischen an.

Sankt Petersburg - Es ist der schönste Tag in ihrem Leben. Ein Augenblick, den man für immer und ewig festhalten möchte. Also muss ein passendes Foto her, vor repräsentativem Hintergrund. Brautpaare in Sankt Petersburg postieren sich daher gerne zum Gruppenbild mit Gästen an der Newa. In unanständig großen, weißen Stretchlimousinen fahren sie zum Fluss und drapieren sich an der Schlossbrücke, mit dem Winterpalast oder der Alexanderfestung im Rücken.

Seit kurzem jedoch zieht es die Frischvermählten weg vom Stadtzentrum mit den klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt Peters des Großen. Immer mehr komplette Hochzeitsgesellschaften marschieren vor einer außerhalb Russlands noch ziemlich unbekannten Attraktion auf: vor dem Museum Erarta, der größten privaten Sammlung zeitgenössischer russischer Kunst. Das neue Museum liegt ab vom Schuss im eher trostlosen Plattenbau-Stadtteil Wassiljewski, einer zwischen Kleiner Newa, Großer Newa und Ostsee eingeklemmten Insel, wo die Straßen keine Namen, sondern Nummern tragen.

Das Gebäude wurde 1961 für das Bezirkskomitee der Kommunistischen Partei gebaut und stand nach der Wende lange leer. Heute befindet sich hinter der Fassade in weißem Stalin-Empirestil ein hochmoderner Kunsttempel, der genauso gut nach Berlin oder New York passen würde - raffinierte Beleuchtung, schicker Glasaufzug, Shops, Café, Restaurant. Mehr als zwei Jahre hat der Umbau gedauert. Erarta hat nichts mit dem lateinischen Wort für „sich irren“ zu tun. „Der Begriff kommt von Era für Zeit und Arta für Kunst. Also: Zeit für Kunst“, erklärt Ksenia Tiossa, die schicke PR-Frau des Hauses, ein dünnes Mädchen mit kunstvoll drapierten rotblonden Locken. Auf 8000 Quadratmetern gibt die 2000 Exponate von 150 Künstlern umfassende Schau einen Überblick über Malerei, Installation und Plastik Russlands von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

„Wir kaufen, was gefällt. Nicht, was angesagt ist“

Wer westliche Museen gewohnt ist, mag die Ausstellung etwa als banal empfinden, wild zusammengewürfelt, wenig tiefgründig, hauptsächlich auf Wirkung bedacht. Die Werke sind nett anzusehen, dekorativ, kaum kritisch. „Wir kaufen, was gefällt. Nicht, was angesagt ist“, erklärt Ksenia Tiossa das Prinzip der Kuratoren. Verkauft wird auch: Zum Museum gehört eine Galerie. Kunst und Kommerz in trauter Eintracht. Hin und wieder stößt man allerdings auch auf ernsthafte Exponate. Einiges, was heute gezeigt wird, war in der Sowjetzeit verboten. Andere Künstler feiern in der postkommunistischen Zeit auch im Westen Erfolge, wie Alexandr Kosenkov.

Der 55-Jährige wuchs dort auf, wohin andere verbannt wurden: im sibirischen Amurgebiet. Heute lebt er in Sankt Petersburg, verkauft seine expressionistischen Gemälde mit ironischem Charme bis nach Deutschland und in die USA und zeigt stolz „seine“ kleine Ecke im Erarta. „Dieses Museum bedeutet für uns Künstler wirklich viel, weil es in Sankt Petersburg praktisch keine Galerien gibt“, sagt Alexandr Kosenkov. Der Kunstbetrieb stecke in den Kinderschuhen. „Es wird kaum investiert. Unglaublich für solch ein großes Land.“ Erarta ist einzigartig. Kunsthistorisch bedeutsam mögen andere Museen sein, aber dieses beeindruckt durch seine Massentauglichkeit.

Jeder Besucher zahlt 400 Rubel (7,91 Euro) Eintritt, egal, ob Ausländer oder nicht. Andernorts in Petersburg kostet die Anfrage in Englisch prinzipiell Aufschlag. Eine Fotogenehmigung - sonst üblich in russischen Museen und anderen Sehenswürdigkeiten - muss auch keiner kaufen. Stattdessen gibt es freien WLAN-Zugang. Viele Mitmachaktionen und Workshops locken die Besucher. Zur Ausstellung gehört auch in Kinoraum, in dem in Endlosschleife animierte Filme gezeigt werden, die sich mit den Kunstwerken beschäftigen. In den kurzen Spots wird mit einem Kunstwerk sehr humorig umgegangen. Sie funktionieren wie Witze ohne Worte. Es gibt kein Aufsichtspersonal, die Sicherheit der Kunst funktioniert subtil über jede Menge Kameras. Willkommen im Überwachungsstaat. Über die Macher des aufwendigen Projekts ist wenig zu erfahren.

Das Museum hat im Internet über 150.000 Fans

Ksenia Tiossa verrät nur so viel: Marina Varvarina, die Witwe des im März 2000 erschossenen Oligarchen Dmitry Varvarin, steht dahinter. Sie soll weitere Mäzene mit ins Boot geholt haben. Wen? Eisiges Schweigen. Womit Herr Varvarin selig seine Millionen gemacht hat? Eingefrorenes Lächeln. Das Internet hilft weiter: Dmitry Varvarin hielt Anteile an einem Mischkonzern namens Orimi - chemische Industrie, Schiffsbau, Holzindustrie, Lebensmittel. Gattin Marina hat sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen, Tochter Dasha Varvarina leitet den Laden von London aus. Denn das Museum Erarta mit angeschlossener Kunstgalerie verfügt inzwischen über Zweigstellen in New York, Zürich, London und Hongkong. Den Petersburgern ist der Hintergrund ihres neuen Hotspots egal. Sie lieben Erarta, das Museum hat in den diversen sozialen Netzwerken im Internet über 150 000 Fans.

„Endlich ein Ort, an dem die moderne Kunst präsentiert wird“, sagt die Journalistin Oksana Krapivko. „Das gab es bis vor kurzem überhaupt nicht.“ Die Jeunesse dorée findet es schick, am Wochenende erst ins Museum zu gehen und danach in einem angesagten Club abzufeiern. Die auffallend vielen jungen Leute steuern auch nicht zielstrebig direkt die Bar im dritten Stock an, sondern gehen tatsächlich durch die Ausstellungsräume. Aufgebrezelte Schönheiten auf schwindelerregend hohen Hacken. Solche Hipster würde man wohl eher in den Ausgehvierteln rund um den Newski Prospekt oder in der In-Gegend auf der Petrograder Seite Petersburgs erwarten, nicht im trostlosen Stadtteil Wassiljewski.

Für die Stadtplaner von Sankt Petersburg ist die Sache ein Segen. Wie wertet man ein abgelegenes Viertel auf? Man installiert ein Leuchtturm-Projekt und hofft, dass die Szene dem folgt. Scheint zu klappen. Und schon wieder fährt eine Stretchlimousine vor. Das nächste Brautpaar. Bitte lächeln!

Infos zu Sankt Petersburg

Anreise
Mit Air Berlin ( www.airberlin.com ) ab Karlsruhe/Baden, Köln/Bonn oder Berlin-Tegel nach Sankt Petersburg. Zur Einreise nach Russland wird ein Visum benötigt. Die Beantragung übernimmt meist der Reiseveranstalter. Wer die Stadt bei einer Ostseekreuzfahrt besucht, kann sich oft die umständliche Visumbeschaffung sparen. Wenn man mit einem organisierten Ausflug von Bord geht, wird am Zoll ein Gruppenvisum ausgestellt.

Anbieterauswahl: Tui Cruises ( www.tui-cruises.com ), Aida ( www.aida.de ), Hapag-Lloyd Kreuzfahrten ( www.hlkf.de ).

Museum Erarta
Das Museum Erarta liegt auf der Wassiljewski-Insel in der Straße Nummer 29, Hausnummer 2. Nächstgelegene Metrostation ist Vasileostrovskaya (Linie Nummer 3). Das Museum hat jeden Tag außer Dienstag von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Eintritt: 400 Rubel (umgerechnet etwa 7,91 Euro) www.erarta.com/en. Das Museum hat eine Facebook-, Instagram- und Twitter-Präsenz und zeigt animierte Kunst-Filme in der Videodatenbank You Tube ( www.youtube.com/user/Erartamuseum ).

Ein Besuch des Museum Erarta steht bei verschiedenen Reiseveranstaltern auf dem Programm: „St. Petersburg - in der Zarenstadt“ (acht Tage ab 1295 Euro, www.drtigges.de ) und „St. Petersburg zum Kennenlernen“ (acht Tage ab 895 Euro, www.gebeco.de ).

Wer mit dem Kreuzfahrtschiff in der Stadt anlegt, kann das Museum relativ schnell mit dem Taxi erreichen, der Kreuzfahrtterminal Sankt Petersburgs, Marine Facade, liegt im selben Stadtteil.

Allgemeine Informationen
Russland hat in Deutschland keine Fremdenverkehrszentrale. Infos erhält man über die Vertretung der Russischen Föderation in Berlin ( www.russische- botschaft.de ) oder beim Tourist Information Centre vor Ort ( www.visit-petersburg.com ).

Buchtipp
Baedeker St. Petersburg, Verlag Karl Baedeker, 17,95 Euro.

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