Am Roten Platz in Moskau. Foto: Sychkov/Fotolia

Auf der Suche nach einem Mythos, nach einem Klischee, das beide Seiten – Ost und West – gern gebrauchen, um das, was eigentlich nicht zu erklären ist, in Worte zu fassen: Die Rede ist von der russischen Seele, von Russlands ebenso viel besungenem wie nebulösem Gemüt.­

In Orsk beginnt Europa an einer Straßenlaterne. Dort hängt ein blau-weißes Schild. Das auch anzeigt, dass Asien hier endet. Aber vielleicht nimmt Asien in Orsk seinen Anfang – und Europa stößt an dieser Flussbrücke an seine Grenzen. Vielleicht ist Asien rechts und Europa links, vielleicht ist Europa im Osten und Asien im Westen. In Orsk, einer Industriestadt 1700 Kilometer von Moskau entfernt und fast schon an der kasachischen Grenze, kommt es immer auf den Standpunkt des Betrachters an. Der Ural ist hier Trennungs- und Verbindungslinie zugleich. In der Altstadt auf asiatischem Gebiet begann einst die Stadtgeschichte. Das europäische Orsk entstand später, mit Plattenbauten und Hüttenwerken.

Orsk also scheint der perfekte Ausgangspunkt zu sein, um sich auf die Suche nach einem Mythos zu machen. Nach einem Klischee, das beide Seiten – Ost und West – gern gebrauchen, um das, was eigentlich nicht zu erklären ist, in Worte zu fassen: Die Rede ist von der russischen Seele, von Russlands ebenso viel besungenem wie nebulösem Gemüt.

Die russische Seele? Iwan lacht laut. „Russland ist sehr beseelt und seelenlos zugleich, das ist das Dilemma“, sagt er, während er in seiner Küche sitzt, vor sich einen Trockenfisch und ein Gläschen Wodka. Iwan heißt nicht Iwan, aber in einer ausländischen Zeitung mit dem richtigen Namen zu erscheinen kann in diesen Tagen gefährlich werden, zumal wenn man wie Iwan für den Staat arbeitet. Eingestuft als „Geheimnisträger“, darf der Polizist nicht mehr ins Ausland reisen, nicht einmal zur Hochzeit ausgewanderter Verwandter.

Das ärgert Iwan – auch wenn er hinter der Politik seines Landes steht, es richtig findet, dass „wir euch klarmachen, dass wir stark sind“. Der Provinzpolizist wirkt aufgebracht und ernüchtert zugleich. „Selbst wenn wir nichts zu zeigen haben und darniederliegen: wirtschaftlich, moralisch, wohl auch politisch. Das ist das Selbstmörderische an uns Russen. Vielleicht ist das auch die russische Seele: sich selbst zu belügen.“ In die warme Küche kehrt Schwermut ein.

Eigener Typus, der sich in keine Kategorie zwingen lässt

Russland spielt gern mit jenem Bild, dass es als Land nicht zu fassen ist. Man verweist auf das Staatswappen, den doppelköpfigen Adler, der nach Westen und nach Osten zugleich schaut und das ganze Staatsgebilde zu überblicken scheint. Warum sich entscheiden zwischen der „asiatischen Wildheit“, wie die Menschen im Land sagen, und der „europäischen Zivilisation“? Der Russe sei eben ein eigener Typus, der sich in keine Kategorie zwingen lasse, hört man oft.

Seit dem kriegerischen Konflikt mit der Ukraine gewinnt vor allem völkisches Gedankengut an Unterstützung. Man besinnt sich auf krude Theorien einer „eurasianistischen Ideologie“, vertreten von einst als nationalistische Wirrköpfe verschrienen Hinterbänklern. Man träumt von einem heiligen, expansiven, militärischen Imperium mit Russland im Herzen. Denn Russland, darauf waren seine Bewohner schon immer stolz, das sei Europa und Asien zugleich, aber auch ein eigenes, ein eigensinniges Etwas. Der Dichter Fjodor Tjuttschew fasste es 1866 in folgende Sätze: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“

Der Glaube ist den Menschen vielfach abhandengekommen. Überlebt hatte die Religion zu Sowjetzeiten allenfalls im Verborgenen, bei geheimen Gottesdiensten in den Küchen der Plattenbauwohnungen und in Erdlöchern auf dem Dorf. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion jedoch fließt viel Geld und Gold in den Kirchenbau, viele suchten in Klöstern Rettung, einen Halt, nachdem der schlecht funktionierende Sozialismus dem schlecht funktionierenden Kapitalismus Platz gemacht und in den Köpfen wie den Geldbeuteln ein großes Loch hinterlassen hatte.

Als Ersatz für die tote kommunistische Utopie fing der Kreml nach der Jahrtausendwende an, zusammen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche eine neue Idee zu zimmern: Das Volk soll die Erlösung in einer tiefen, der russischen Seele würdigen Geistigkeit suchen. Die Kirche agiert als Vermittlerin traditioneller Werte und als Garantin für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese steht vor allem in schlechten Zeiten beisammen, schnallt den Gürtel enger – weil es sein muss, für Staat, Staatschef, Heimat. Das habe man schließlich auch früher schon gemacht, jahrzehntelang, so die Haltung.

Das Leiden beherrschen die Russen ausgezeichnet. Ihre Geschichte ist voller Leidensmomente, ob durch äußere oder innere Mächte verursacht. Sie würden sich schnell fügen, sagen viele Russen und bescheinigen sich eine Sklavenseele. Das Erdulden aller Widrigkeiten erzeugt für sie so etwas wie Sinn. Wer Qualen klaglos erträgt, kann sich zumindest moralisch überlegen fühlen. Schon Fjodor Dostojewski, der große, der dunkle Sinnsucher der russischen Literatur, schrieb 1873 in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“: „Das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden.“

Kommunismus hat russische Seele offenbar entstellt

Es sei vor allem die Literatur, die einen Gegensatz zwischen Ost- und Westmentalität konstruiert hat. So beschreibt es der Soziologe Lew Gudkow, Direktor am Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada. Im Gegensatz zum zielgerichteten, willensstarken, verantwortungsbewussten Westler werde der Russe als passiv, leidend und emotional wahrgenommen. Die Sowjetideologie habe die Bevölkerung „von der Seele befreit“, ein neuer Mensch sollte entstehen.

Erst unter Staatschef Leonid Breschnew in den 70ern sei die russische Seele wieder Thema geworden, so Gudkow. Das Selbstbild der Russen heute beschreibt er so: „Man ist zwar arm, lebt schlecht und leidet an der Willkür der Staatsmacht, aber man ist ja so besonders, schätzt die menschliche Wärme, ist gastfreundlich, hilft sich gegenseitig. Daran klammern sich die Menschen, auch wenn sie wissen, dass sie sich etwas vormachen.“

In Moskau spricht Pater Dimitri vom Krutizki-Patriarchenhof von der „Krankheit der russischen Seele“. Der Kommunismus habe sie entstellt, ihr den Glanz geraubt. Es sei, als hätten die Menschen nur noch ein Bein, sagt Pater Dimitri. Seit Jahren versucht er, den Menschen ein zweites Bein zurückzugeben. „Sie sagen, sie seien russisch-orthodox, aber sie kennen den Glauben nicht. Wie denn auch, die Religion hatte man ihnen ausgetrieben.“ Deshalb übt der Pater mit seiner Gemeinde Gebete auf Altkirchenslawisch, einer Version der alten russischen Sprache, und feiert kirchliche Feste. Vor allem um die Jugend geht es ihm: „Sie muss doch einen Sinn im Leben haben.“

Viele Kilometer von Pater Dimitri entfernt, in der Stadt Sljudjanka am Baikalsee, hat der 27-jährige Ljocha schon lange den Sinn aus dem Blick verloren. „Meine Seele ist ertrunken in den vielen Flaschen Alkohol. Wodka, Bier, Cognac“, sagt er, grinst schief mit seinem fast zahnlosen Mund. Tagsüber kommt er oft an den Baikalsee, diese tiefe „Seele des Landes“, trifft hier seine Saufkumpane. Eigentlich hat Ljocha Mechaniker gelernt, dann aber „sich vertrunken“, wie die Russen sagen. Er hat sich sein Leben durch zu viel Hochprozentiges ruiniert. Die Eltern, die Frau, der Chef: Mit irgendwem gab es immer Probleme.

„Jeder baut sich seine eigene russische Seele zusammen“

Ljocha sieht es selbstkritisch: „Bei uns ist immer jemand anderes schuld. In erster Linie der Westen, vor allem die USA. Gleichzeitig verehren wir den Westen, vor allem die USA.“ Vielleicht mache dieses Zwiespältige die russische Seele aus. „Ich jedenfalls hätte gern mal New York gesehen. Aber . . .“, Ljocha macht eine Handbewegung, als wolle er Mücken wegscheuchen, „ach, zum Teufel . . .“ Er nimmt einen Schluck aus seiner halbgefüllten Flasche, starrt auf den See.

Es war ein Franzose, der den Begriff der russischen Seele geprägt hat. Vicomte Eugène-Melchior de Vogüé, einst Diplomat im zaristischen Russland, verglich in seinem „Russischen Roman“ von 1886 das Innenleben der Russen mit dem Innenleben ihrer traditionellen Okroschka. Das ist eine kalte Suppe aus vergorenem Brotgetränk, in die Wurst, Eier, Gemüse gebröselt werden. „Alles existiert in dieser Suppe, sowohl die leckeren als auch die abscheulichen Dinge. Sie wissen niemals, was Sie daraus herauslöffeln werden“, schrieb der Franzose. Mit der russischen Seele verhalte es sich ähnlich, vieles sei durchmischt, die Mystik und die Vernunft, das Alles und das Nichts.

„Jeder baut sich seine eigene russische Seele zusammen“, sagt Provinzpolizist Iwan aus Orsk, als von seinem Trockenfisch nur noch die Gräten übrig bleiben. Ähnlich sieht es Olga Abrassimowa vom Heimatmuseum in Orsk. „Wir Russen haben einen Hang zu Gegensätzen“, sagt die junge Frau. „Wir wollen, dass uns jemand führt, sagt, wo es langgeht. Doch wir verstehen oft zu spät, dass es die falsche Richtung ist, in die wir geführt werden. Wir sagen aber nichts, wir leiden, obwohl wir sehen, wie unheimlich und unvorhersehbar sich die Zukunft gestaltet.“