Ljudmilla Ulitzkaja ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Foto: ELKOST Intl. Literary Agency

In einer mutigen Stellungnahme ruft die Moskauer Schriftstellerin Ljudmilla Ulitzkaja zum Widerstand gegen die Propaganda Wladimir Putins auf. Wir drucken ihren Aufruf ab.

Moskau - Ljudmilla Ulitzkaja, 1943 geboren, lebt in Moskau und zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Russlands und unserer Zeit. Ihr Name fällt regelmäßig, wenn es um den Kandidatenkreis für den Literaturnobelpreis geht, 2020 erhielt sie den Siegrfried-Lenz-Preis. Unmittelbar am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine hat sie ein Statement geschrieben, das erst an diesem Montag ihren deutschen Verlag Hanser erreicht hat. Wir veröffentlichen es ungekürzt:

Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden ohne Krieg weiterleben. Bis zu unserem Tod, der, worum wir stets als orthodoxe Christen beten, ,friedlich, schmerzlos und nicht peinlich’ sein möge. Aber daraus scheint nichts zu werden. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Ereignisse dieses dramatischen Tages auswirken werden.

Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird.

Großes Unglück für die gesamte Menschheit

Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle am heutigen Tag.

Schmerz – weil der Krieg alles Lebendige trifft – das Gras, die Bäume, die Tiere, die Menschen und ihre Kinder.

Angst – weil unser biologischer Instinkt auf die Erhaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Nachkommen gerichtet ist.

Scham – weil offensichtlich ist, dass die Regierung unseres Landes die Verantwortung trägt für diese Situation, die großes Unglück über die gesamte Menschheit bringen könnte.

Die Verantwortung für das, was heute geschieht, tragen aber auch wir alle, die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht vorherzusehen und zu verhindern vermochten. Wir müssen diesen eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch die offiziellen Medien auf unsere Bevölkerung einströmen.

Ljudmilla Ulitzkaja