Ein großer Kenner der russischen Literatur: der pensionierte Pfarrer und Erwachsenenpädagoge Reinhard Köstlin Foto: Bernklau

Im Gemeindesaal der Himmelfahrtskirche befasst sich Reinhard Köstlin mit Leo Tolstoj.

Stuttgart-Birkach - Die Begeisterung war ihm in jedem Satz anzumerken. Reinhard Köstlin ist nicht nur ein ausgewiesener Kenner, sondern ein enthusiastische Liebhaber der russischen Literatur. Am Donnerstagabend war der pensionierte Pfarrer beim Schönbergverein im gut gefüllten Saal der Himmelfahrtskirche zu Gast. Einem der Größten nicht nur der russischen, sondern der Weltliteratur widmete er sich: Leo Tolstoj, dem Dichter von „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“.

„Gar nicht so weit weg von unserer Gegenwart“ sei der 1910 gestorbene Tolstoj, meinte Köstlin. Ein Vorausseher sei der 1828 in den reichen russischen Hochadel hineingeborene Grafensohn gewesen, der früh schon die Mutter verlor und mit neun Jahren Vollwaise war. Bald schon versuchte der Visionär in der archaischen Gesellschaft reformerische Ideen vor allem für die oft noch leibeigenen Bauern zu entwickeln – auf dem eigenen Gut. Nach seinem Einsatz im Krimkrieg wurde Tolstoj konsequenter Pazifist und blieb es zeitlebens. Auch ein Gott- und Sinnsucher war er. Und er war „hypersexuell“, so Reinhard Köstlin. Nach einer ausschweifenden Jugend blieb er allerdings seiner 16 Jahre jüngeren deutschstämmigen Frau Sofja Andrejewna treu, die freilich 16 Schwangerschaften, drei Fehlgeburten und fünf früh gestorbene Kinder zu verkraften hatte. Bis zu seinem Tod blieb es auch geistig eine höchst spannungsgeladene Ehe.

Tolstojs Einfluss und Bedeutung im russischen Zarenreich und weit darüber hinaus zeigte der Pfarrer anhand einer zeitgenössischen schwedischen Karikatur. Der Dichterriese hielt den vermeintlich allmächtigen Zaren als Zwerg auf seiner Hand. Die Umsturzideen seines Bewunderers Lenin („Was für ein Koloss!“) allerdings hielt Tolstoj, „ein Stachel im Fleisch der Zarenherrschaft“, für grundfalsch. Er setzte ganz auf Gewaltlosigkeit, Bildung und Erziehung.

Vier Passagen aus „Krieg und Frieden“ hatte Köstlin ausgesucht und trug sie mit plastischer Dichte und manchmal atemloser Dramatik vor: eine berühmte Flirt-Szene der jungen Natascha Rostowa auf dem Namenstags-Ball, die Beschreibung der Liebeskranken, worin der Dichter moderne psychosomatische Einsichten vorwegnimmt, sowie ergreifende Schilderungen von Flucht, Tod, Trauer, Trost und Befreiung in den Kriegswirren. Unter den hunderten Gestalten des Romans sei „der wahre Hauptheld das Leben“. Und letztlich, so hatte der in Schönberg lebende Literaturliebhaber schon eingangs zusammengefasst, „läuft im Fühlen, Denken und Dichten von Tolstoj alles auf Liebe hinaus“.