Bezeugen und Erzählen, was ist: der Ukraine-Krieg ist auf der Messe allpräsent. Foto: AFP/André Pain

So politisch war die Frankfurter Buchmesse noch nie. Während die Branche mit sich überschneidenden Krisen zu kämpfen hat, zeigt sich in diesen Tagen die zentrale gesellschaftlich Bedeutung der freien Republik der Bücher, die hier zusammenfindet.

In der Mitte des zentralen Platzes auf dem Messegelände liegt ein Mensch. Wie tot, gehüllt in eine ukrainische Fahne. Eine Hand ragt heraus. Um ihn herum herrscht reges Treiben. Aussteller schnappen im wärmenden Licht eines goldenen Herbsttages, nach der Luft, die die im Inneren der Hallen immer noch die zahlreich getragenen Masken verknappen. Vor Würstchenbuden bilden sich lange Schlangen.

 

Zwei Frauen in pink-heiteren Shirts fordern auf, die fröhliche Lesewelt von Booktok zu entdecken. Zum ersten Mal ist der literarische Arm der chinesischen Tanzvideo-App vertreten. Geduldig erklären die munteren Booktockerinnen skeptischen Social-Media-Muffeln fortgeschritteneren Alters, dass hier keineswegs Buchempfehlungen getanzt werden, sondern eine wachsende Community junger Leser ihre Erfahrungen mit einem alten Medium in den Darstellungsformen eines neuen teilt. Immer mehr Verlage wittern in dieser kleinen Medienrevolution der für das Buch verloren geglaubten Generation Z ihre Chance.

Bewegungsmuster von Security-Rudeln zeigen an, wo sich gerade Prominenz tummelt. Als markant-weißbestrumpfter Kern eines dieser Ensembles zieht die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth gut gelaunt von Hotspot zu Hotspot. Und so geht alles seinen Gang. Nur das in blau-gelb hingestreckte Menschenbündel verharrt still und unbeweglich.

Die erste feministische Revolution der Weltgeschichte

Spanien ist auf der Frankfurter Buchmesse mit einer glänzenden Autorenriege präsent und einem Königspaar, das es sich nicht nehmen lässt, leibhaftig zwischen den Messeständen zu flanieren, geborgen in einem wabernden Pulk aus Polizisten. Das diesjährige Gastland hat überdies eine Auswahl der Highlights seines bedeutendsten Museums, des Prado, mitgebracht. In leuchtenden Reproduktionen säumen italienische Madonnen, ekstatische El-Greco-Heilige die Agora. Im Licht, das sich in den weltgeschichtlichen Schreckensbotschaften dieser Tage bricht, rückt vor allem eine nächtliches Szene Francisco de Goyas in den Blick. Ein Aufständischer bäumt sich darauf verzweifelt entschlossen dem Kugelhagel eines Erschießungskommandos entgegen.

In nächster Nähe diskutiert in der zentralen gesellschaftspolitischen Bühne des Frankfurter Pavillons der PEN Berlin, wie es mit dem Aufstand der Zivilgesellschaft gegen das Mullah-Regime im Iran weitergehen könnte. „Es gab schon viele Proteste“, sagt die deutsch-iranische Publizistin Natalie Amiri, „jetzt aber sind alle auf der Straße“. Was man erlebe sei die erste feministische Revolution der Weltgeschichte, getragen von Frauen und unterstützt von weiten Teilen der Gesellschaft über alle Ethnien hinweg. Auch hier steht die Generation Z in vorderster Linie, berichtet Amiri. Unerschrocken werfe sie sich den Sicherheitskräften entgegen, um einen Regime-Change zu fordern. Die Aussichten auf Erfolg hängen entscheidend von den internationalen Reaktionen ab, sagt der Vorsitzende des neu gegründeten Autorenverbands, Deniz Yücel: „Deutschland ist Weltmeister für schäbige Geschäfte und sinnlose Dialoge und immer noch einer der wichtigsten Handelspartner des Irans“. Der Onkel des Grünen-Chefs Omid Nouripour war in jenem Gefängnis inhaftiert, in dem gerade zahlreiche Regimegegner unter ungeklärten Umständen verbrannt sind. Deutschland müsse mehr machen, räumt Nouripour ein, wohl auch mit Blick auf die eigene Außenministerin. Es reiche nicht Bilder der Aufständischen zu liken.

Mit einer aufsehenerregenden Dankesschur hat Kim de l’Horizon bei Verleihung des Deutschen Buchpreis eine Solidaritätsadresse an die iranischen Frauen gesandt und damit auch eine Debatte ausgelöst, von queerfeindlichen Hassbotschaften einmal ganz abgesehen. In Zeiten größter medialer Aufmerksamkeit sitzt de l‘Horizon nun auf den Lesebühnen der Messe mit einem alles andere als fachgerechten Haarschnitt und räumt etwas verlegen ein, sich vorher nicht überlegt zu haben, was es bedeutet, wenn die Haare wirklich weg sind. Allein die Bereitschaft, wie ein gerupftes Huhn die Tage des größten Erfolgs zu absolvieren, zeugt gegen den seltsamen Vorwurf, sich narzisstisch den Freiheitskampf der Iranerinnen anverwandelt zu haben.

In der Ukraine werden Druckereien und Verlage zerbombt und ihre Mitarbeiter getötet. In der Halle der internationalen Verlage finden sie Asyl. Manche Bücher tragen Titel wie „Survival as Victory“, „The Moscow Factor“, andere entfalten selbstbewusst die Kultur, die gerade von Drohnen und Raketen ausgelöscht zu werden droht. Auf einem Tisch liegt ein Buch mit prähistorischen Ungeheuern. Blickt man durch ein davor aufgebautes Tablet auf die Szene, sieht man plötzlich wie eines der vorzeitlichen Monster seine gefräßige Fratze aus der Zweidimensionalität in den realen Raum schiebt. Die Monster sind los, der Schrecken, den sie verbreiten, ist überall auf dieser Messe zu spüren, auch wenn sie selbst unsichtbar bleiben.

Auftritt des ukrainischen Präsidenten

Hier löst sich auch das beklemmende Rätsel um jene wie von unsichtbaren Gewalten hingestreckte Gestalt. Es ist die ukrainische Künstlerin Maria Kulikovska. Mit ihrer Performance, die sie schon unter realem Einsatz des Leben vor einem Museum in Petersburg gezeigt hat, rückt der Krieg in ihrer Heimat hautnah heran. Sie bereitet den Auftritt des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij vor. Am Donnerstag wendet er sich mit der Wucht eines antiken Dichters an die Messebesucher und beschwört sie, alles dafür zu tun, damit jeder weiß, wie viele Menschen im Kampf für Rechte, die für jeden Europäer selbstverständlich sind, ihr Leben verloren haben: „Bezeugen Sie es und erzählen Sie es weiter.“ Eindringlicher und unmittelbarer wurde der Auftrag an die freie Republik der Bücher selten formuliert.

Die Pandemie hat darin Spuren hinterlassen. Die Verlage Hanser, Suhrkamp, Aufbau und C.H.Beck sind räumlich enger aneinander gerückt. „Die Krisen überlagern sich – mit unterschiedlichen Folgen für die Buchwelt“, sagt der Hanser-Chef Jo Lendle. „In Zeiten des Lockdowns haben sich viele verblüfft erinnert, wie herrlich das Lesen ist. Diese neu entfachte Leidenschaft hat den Büchern gut getan“. Jetzt aber schlügen die Folgen des Krieges massiv zu, Kostensprünge und Konsumangst bildeten ein furchterregendes Gemisch: „Ich mache seit 25 Jahren Bücher – so steinig war es noch nie.“

Um die Ecke bei dem unabhängigen Verlag Voland & Quist ist man etwas entspannter. Zwar sind auch hier die Verkäufe bei Kriegsbeginn eingebrochen – andererseits sei noch nie ein Oktober so gut angelaufen ist wie dieser, ist von dem Verleger Leif Greinus zu hören, „unsere Novitäten gehen ihren Weg.“ Allerdings müssten die Preise spürbar angehoben werden.

Gemessen an dem, was auf der Buchmesse eine Bratwurst oder eine Flasche Wasser kostet, sind Bücher erstaunlich billig. Wohl dem, der eine Bottle of Soul besitzt, eine nachhaltige Trinkflasche, die im Non-Book-Bereich angeboten wird. Als Seelenbehältnisse, so könnte man Bücher auch begreifen. Und damit wäre man schon wieder bei Claudia Roth. Sie ist die Laudatorin des Julius-von-Campe-Preises, mit dem herausragende Verdienste der Literaturvermittlung ausgezeichnet werden: Preisträgerin ist in diesem Jahr – die Buchmesse selbst, die, wie die Kulturstaatsministerin ausführt, im selben Jahr ins Leben gerufen wurde wie das Grundgesetz. Symbolisches Preisgeld sind 30 Flaschen seelenvollen Weins.

Im spanischen Pavillon kann man sein Lieblingsworts dem Mikrofon einer Übersetzungs-Installation anvertrauen, die es auf einem Bildschirm in Farben und Formen wandelt. Wenn man ganz deutlich das Wort „Frieden“ ausspricht stäubt eine bunte Wolke auf. Täuscht es, oder mischen sich darin die Farben der Ukraine und des Iran? Es wäre immerhin ein Hoffnungszeichen.