Rufus Wainwright Foto: Kevin Westenberg/Promo

Rufus Wainwright und der Liederzyklus „All Days Are Nights: Songs For Lulu“ - Ein Gespräch.

Stuttgart - Nur die Stimme und ein Klavier sind übrig. Rufus Wainwright, der bisher mit der Opulenz seiner Popentwürfe auffiel, versucht sich auf dem Album "All Days Are Nights: Songs For Lulu" an einem klassischen Liederzyklus.

Mr. Wainwright, wenn Sie jetzt Lieder für Lulu singen, denken Sie dann auch an die Figur, die Louise Brooks in dem Stummfilm "Die Büchse der Pandora" spielte?

Genau, ich denke vor allem an Louise Brooks und den Film von Georg Wilhelm Pabst. Aber auch an das Theaterstück von Frank Wedekind und die Oper "Lulu" von Alban Berg. Es geht um diese Vorstellung von einer Person, die so umwerfend ist, dass sie alles und jeden auf ihrem Weg zerstört. Ein bloßer Wimpernschlag von ihr genügt, um ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen (lacht).

Hat diese Figur etwas mit Ihnen zu tun?

Das Witzige ist, dass ich mich früher selbst in dieser Rolle gesehen habe. In Wirklichkeit war ich es nie, aber ich wünschte mir, ich wäre Lulu gewesen. Da wollte ich hin, als ich jung war. Aber tatsächlich besaß ich nie eine derartig magnetische Anziehungskraft. Ich war sehr talentiert, aber ich war zu ... Nun ja, nicht zu nett, aber vielleicht zu aufgeräumt, um diese Rolle zu geben. Ich habe mich ein wenig zu sehr darum bemüht, ein Albtraum zu sein, ein wunderschöner Albtraum zu sein.

In drei Ihrer Songs vertonen Sie Sonette William Shakespeares.

Ich habe ja für Robert Wilson und das Berliner Ensemble die Musik zu zehn Shakespeare-Sonetten geschrieben. Die drei, die ich jetzt für mein Album ausgewählt habe, funktionierten am besten für das Klavier. Außerdem gefallen mir diese drei Sonette besonders gut. Insbesondere das Sonett 20, "A Woman's Face". Das ganze Album ist stark von meinen Erfahrungen am Theater beeinflusst. Das waren intensive Momente, die ich mit Wilson, aber auch mit meiner Oper "Prima Donna" und einem vollen Orchester erlebt habe.

Das Klavier als Anker in einer schweren Zeit

"All Days Are Nights" beruht auf einer Zeile aus dem Sonett 43: "Der Tag ist Nacht, seh' ich dich nicht vor mir" ...

Für mich steht dieses Sonett für die surreale und unvorhersehbare Natur der Zeit. Ich wurde mit dem Tod meiner Mutter konfrontiert, mit der Arbeit an meiner Oper und der Arbeit mit Robert Wilson. Bei derartig intensiven Erfahrungen geht die Zeit als Erstes über Bord. Egal ob es 3 Uhr nachmittags oder 3 Uhr nachts war, es spielte keine Rolle, an welchem Punkt sich der Rest der Welt befand. Es zählte nur der Moment und die Sache, mit der ich mich selbst gerade auseinandersetzte. Als meine Mutter an einer ganzen Reihe von Schläuchen angeschlossen war, spielte die Tageszeit für mich keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt war für mich die Nacht angebrochen.

Im Januar ist ihre Mutter, die Folksängerin Kate McGarrigle, dann gestorben.

Ja, und ich rede nur deshalb so bereitwillig darüber, weil wir uns so nahestanden und so ein berühmtes Paar bildeten. Die Öffentlichkeit hat uns als Paar wahrgenommen, weil ich sie so häufig für meine Projekte eingespannt habe, weil wir häufig zusammen auf der Bühne standen und gemeinsam von der Presse aufgegriffen wurden. Jetzt, nach ihrem Tod, entwickle ich mich zu einer anderen Person.

Sie sind bekannt für große Gesten und große Projekte, für exaltierte Popsongs mit üppigen Arrangements. Ihr neues Album wirkt wie ein bescheidener Gegenentwurf. Da erklingt nur Ihre Stimme und Ihr Klavier. Wie kam es dazu?

Dafür gibt es mehrere Gründe. In dieser schweren Phase meines Lebens mit der Krankheit meiner Mutter stellte das Klavier für mich einen Anker dar. Wenn ich mich ans Klavier setzte, konnte ich alles andere ruhen lassen und die Dinge verarbeiten, die sich in meiner Umgebung ereigneten. Das waren sehr private, besinnliche Momente. Und es war für mich die einzige Möglichkeit, alle Anwesenden aus dem Raum zu scheuchen, denn ich musste schließlich üben.

Doch es ging Ihnen nicht nur um eine Form der Flucht, oder?

Mein Publikum hat inzwischen ein großes Aufgebot üppiger Arrangements, kolossaler Ideen und gewaltiger musikalischer Interpunktionen von mir ertragen, meine Hommage an Judy Garland, die Oper oder auch Rock'n'Roll. Die Köpfe meiner Hörer müssen ziemlich überfüllt sein von meiner Musik. Das Album erfüllt gewissermaßen die Aufgabe eines Sorbets zwischen den schweren Gängen eines Menüs (lacht). Etwas zur Reinigung des Gaumens. Und schließlich geht es mir darum, dass dieses Album im Einklang mit der derzeitigen Lage der Gesellschaft steht. Wir befinden uns in einer Rezession. Alle müssen etwas zurückstecken. Insbesondere in Amerika sind große Sprünge zurzeit nicht angesagt. Es ist einfach kein Geld mehr übrig. "Songs For Lulu" stellt also auch eine Art Depressions-Album dar.