Der Leichtathlet Rudolf Harbig: Sein früher Tod befeuerte seinen Ruhm – zunächst jedenfalls. Foto: ullstein bild, Lothar Ruebelt

Rudolf Harbig, vor 75 Jahren an der Ostfront gefallen, galt als Wunderläufer. Nach dem Krieg wurden Stadien und Preise nach ihm benannt, in Ost wie West wurde der Sachse als Sportheld ohne Fehl und Tadel verehrt. War er das wirklich?

Stuttgart - Der Blick auf die Stoppuhr, er ließ den Trainer an seiner Sehkraft zweifeln. Was Woldemar Gerschler sah, schien ihm einfach zu fantastisch. Bei 1:46,6 Minuten war der Zeiger stehen geblieben. „Ist eine solche Zeit menschenmöglich?“, fragte er sich am 15. Juli 1939 in der Mailänder Arena Civica, in der das Publikum nach Rudolf Harbigs epischem Duell mit Mario Lanzi noch immer tobte.

 

Erst als der Stadionsprecher „Record mondiale“ durchsagte, glaubte der Coach an diese Zeit, die 1,8 Sekunden schneller war als alles, was zuvor über 800 Meter gelaufen worden war. Er habe die Stoppuhr von diesem sagenhaften Rekord in Mailand nie wieder auf null gestellt, um sie als Dokument der Sportgeschichte aufzubewahren, berichtete Gerschler später.

Mythische Figur der Leichtathletik

Vier Wochen danach stellte Harbig mit 46,0 Sekunden auch den Weltrekord über 400 Meter ein, wieder gegen den Italiener Mario Lanzi, diesmal in Frankfurt. Im Jahr 1941 knackte er zudem die Bestzeit über 1000 Meter. Damit ist Harbig bis heute der einzige Läufer der Geschichte, der gleichzeitig diese drei Weltrekorde hielt. Aber es war vor allem der spektakuläre 800-Meter-Rekord, der 16 Jahre Bestand haben sollte, der aus Harbig eine mythische Figur der Welt-Leichtathletik machte.

Den Ruhm überlebte der Wunderläufer selbst nur ein paar Jahre. Am 5. März 1944, vor 75 Jahren, wurde Harbig an der ukrainischen Ostfront bei Kirowograd als vermisst gemeldet. „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben“, meinte in der Antike der römische Dichter Plautus im Bewusstsein, dass ein früher Tod den Ruhm noch befeuern könne. So war es auch im Falle Harbigs. Zunächst jedenfalls.

Der Läufer überwindet ideologische Grenzen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges überwand der Läufer, wenn man so will, alle ideologischen Grenzen. Die Mauer zwischen Ost und West trennte die Erinnerung an Harbig nicht. Ludwig Koppenwallner, später Sportchef der „Süddeutschen Zeitung“, huldigte Harbig als „Idealbild eines wahren Sportsmanns“. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) schuf 1950 den Rudolf-Harbig-Preis, mit dem seither die Lebensleistung bedeutender Leichtathleten ausgezeichnet wird.

Im Osten modellierte seine Witwe Gerda fleißig an einem romantischen Bild, das ihren Mann als unpolitischen Sportler zeichnete. „Rudolf Harbig blieb auch in der Uniform ein Mensch. So wie er jeden seiner Gegner auf der Aschenbahn geachtet hatte, ganz gleich aus welchem Lande er kam und welcher Hautfarbe er war, so wahrte er auch während der Kriegsjahre die Achtung vor den Menschen anderer Völker“, schrieb sie 1955 in ihrem Bestseller „Unvergessener Rudolf Harbig“. Das Dresdner Stadion trug zwischen 1951 und 1971 seinen Namen (und trägt ihn heute wieder).

Gleichermaßen verehrt in Ost und West

In der Erinnerungsgeschichte des deutschen Sports stellt der Läufer damit ein Novum dar: Harbig war der einzige Athlet, der zwischen 1945 und 1990 gleichermaßen in Ost wie West verehrt wurde – und somit 2008 zwangsläufig als Gründungsmitglied in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen wurde. Bläst man aber all den mythischen Staub hinweg, der sich nach dem Krieg in einer dicken Schicht über Harbig legte, stellen sich doch einige Fragen zu dieser Heldenverehrung.

Fraglos wirkt Harbigs steiler Aufstieg in den Olymp des Sports wie ein modernes Märchen. Geboren am 8. November 1913 in Dresden, war der Sohn eines Heizers als Heranwachsender beim TuS Frisch Auf Tauchau mit der Leichtathletik und dem Handball in Berührung gekommen, er gewann früh einige Rennen. Entdeckt wurde er aber erst im Jahr 1934 beim „Tag des unbekannten Sportmanns“, den derNS-Sport als Talentsichtung für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin initiiert hatte.

Im Alter von 22 mit systematischem Training begonnen

Betreut von Woldemar Gerschler, begann Harbig 1935, also erst im Alter von 22, mit systematischem Training. Bereits ein Jahr später wurde er deutscher Meister über 800 Meter und gewann bei den Propagandaspielen in Berlin Bronze mit der 4x400-Meter-Staffel. 1938 siegte er bei der Europameisterschaft über 800 Meter und mit der 4x400-Meter-Staffel. Plötzlich war Harbig, ein gelernter Stellmacher, der vor 1933 unter der Weltwirtschaftskrise gelitten hatte und seit 1936 als Gasmann in seiner Heimatstadt arbeitete, ein Star. Er wurde als Produkt des NS-Sports gefeiert.

Als Harbig zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurde, instrumentalisierte ihn die NS-Kriegspropaganda und auch sein Trainer als vorbildlichen Soldatensportler. „Welches Ziel ist größer?‘, fragen wir uns. Olympiasieger zu werden? Das harte Leben eines deutschen Sportsmannes weiterzuführen, oder das noch härtere Leben des deutschen Soldaten auf sich nehmen?“, fragte Gerschler rhetorisch in dem Buch „Harbigs Aufstieg zum Weltrekord“ (1939). „Die Antwort brauchen wir nicht auszusprechen. Sie liegt uns im Blute.“

Buch zerstört Image als unpolitischen Sportler

Dieses Buch zerstört zugleich das Image Harbigs als unpolitischer Sportler. Es enthält zahlreiche Passagen, die Trainer und Athleten als Antisemiten und Rassisten erscheinen lassen. So schildert Gerschler eine Episode aus Straßburg, in der sich sein Schützling und er auf dem Weg zur EM 1938 nach Paris gegen Juden hätten zur Wehr setzen müssen. Ein Foto Harbigs, das ihn mit einem schwarzen Sprinter zeigt, ist wie folgt beschrieben: „Lässt Harbig sich nicht ein bisschen zu deutlich anmerken, wie der ‚Schwarze‘ auf ihn wirkt?“

Sporthistoriker gehen davon aus, dass der Leichtathlet diese Passagen vor Erscheinen des Buches autorisierte. Für einen solch offen formulierten Rassismus gebe es in Sportbüchern dieser Ära kein Beispiel, urteilt der Sporthistoriker Lorenz Peiffer (Hannover). Überdies sei es „extrem bemerkenswert, dass diese eindeutigen Passagen nach dem Zweiten Weltkrieg vom Mythos des Läufers überdeckt wurden“. Wer auch immer sich nach 1945 mit der Biografie von Rudolf Harbig beschäftigte, verschwieg diese dunklen Abschnitte.

Spektakuläre Leistungssprünge

Genauso wenig wurde die zeitliche Kongruenz der spektakulären Leistungssprünge Harbigs mit der Erfindung des Methamphetamins Pervitin thematisiert: Das hochwirksame Stimulans, in hohen Dosen in Pralinenform käuflich, wurde Ende der 1930er Jahre massenhaft konsumiert, bis Reichsgesundheitsführer Conti 1941 das „Speed“ wegen des hohen Suchtpotenzials unter das Opium-Gesetz stellte.

Man muss davon ausgehen, dass auch im Sport mit Pervitin experimentiert wurde: Vor den Olympischen Spielen 1932 hatten deutsche Sportmediziner bereits Hormongaben bei Sportlerinnen getestet. Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlinsollen viele Athleten mit Benzedrin, einem weniger starken Amphetaminpräparat, experimentiert haben.

Hinzu kommt, dass Harbig bereits vor seinem Weltrekord von dem Sportmediziner Herbert Reindell betreut wurde: Jener Reindell, der nach dem Krieg in Freiburg die führende deutsche Sportmedizin aufbaute, ließ 1952 den leistungssteigernden Effekt des Pervitins, das als „Prototyp eines Dopingmittels“ bezeichnet wurde, wissenschaftlich untersuchen. Auch nach dem Krieg arbeitete Reindell vertrauensvoll mit Trainer Gerschler zusammen.

Komplizierte deutsche Sportgeschichte

Das alles seien „Erkenntnisse, die den großen Mythos Harbig in Frage stellen“, resümiert Sporthistoriker Peiffer. Harbig sei „kein Widerständler“ gewesen, urteilt der Berliner Kollege Volker Kluge, zumal der Läufer auch 1937 in die NSDAP eingetreten sei. In jedem Falle illustriert die historische Figur des Rudolf Harbig, wie kompliziert die deutsche Sportgeschichte ist.

Mit Heldenverehrung allein kommt man da nicht weiter. Es reicht jedenfalls nicht, die Figur Harbig nur auf den ungläubigen Blick auf die Stoppuhr zu reduzieren.