Romeo Weiß ist Scherenschleifer und Messerschärfer – wie sein Vater, sein Großvater, seine Urgroßväter und seine Söhne. Mit seiner Werkstatt auf Rädern steht er jede Woche woanders.
Romeo Weiß steht mit seinem Schleifmobil am Edekamarkt in Steinsfurt, hinten bei der Anlieferrampe und dem Abfallcontainer. Er sitzt an der Werkbank im Laderaum des Kleintransporters und hat den Schleifbock angeworfen. Strom kriegt er von Edeka, der Zähler läuft. In immer gleichen hypnotischen Bewegungen zieht er die Messerschneide über die feinkörnige Scheibe. Es riecht wie in Metallbetrieben. Dann wechselt er zum flauschigen Polierrad fürs Finish. Die strahlende Vormittagssonne stellt wirbelnde Abriebteilchen zur Schau, sie tanzen um den 52-Jährigen wie in einer Schneekugel. Eine Schutzmaske braucht er nicht. Wenn die pudrige Staubschicht am Arbeitsplatz zu dick wird, saugt er kurz durch. Eine kleine Lichterkette bringt ein bisschen Licht und Glamour in seine verdunkelte Kastenwagen-Werkstatt. Er schärft aber auch blind, wenn es sein muss. Das macht sich wie von selbst. Kaum hat er angefangen, ist er schon fertig mit dem Messer.
Eine Rentnerin: „Grüß Gott, ich will mal fraga, was täte des koschten?“ – „Fünf Euro pro Messer.“ – „Fünf Euro?“ – „Fünf Euro.“ Sie gibt dem Schärfer drei gute Besteckmesser von WMF. „In einer Stunde können Sie sie abholen.“
Seine Polier- und Schleifscheiben „mit Diamantzeugs“, die im Halbdunkel wieder vor sich hindösen, wenn er sie ausschaltet. Den Ledersessel, auf dem schon sein Vater saß und den er nie hergeben wird. Mehr braucht Romeo Weiß nicht in seiner kleinen Welt. Um sechs Uhr ist er aufgestanden, hat mit seiner Frau gefrühstückt und gebetet. Ein Vesper nimmt er nicht mit, irgendwo gibt es immer Kaffee. Um 17 Uhr ist Schluss, dann fährt er wieder eine Stunde heim nach Neustadt an der Weinstraße, wo seine Frau mit dem warmen Abendessen wartet. An Wochenenden kocht er auch selbst mal Gulasch oder Hühnchen.
Er führt das Geschäft seines Vaters und seines Großvaters und seiner Urgroßväter fort. Er hat immer ein Foto seiner Eltern bei sich: Vater Heinrich und Mutter Sarina vor ihrem Wohnwagen, der Vater mit Gartenschere in der Hand. Romeo Weiß wurde im Wohnwagen groß. Immer auf Achse. Seine Generation ist die erste, die man sesshaft nennen kann. Seine Frau kommt von Hildesheim, auch aus einer Messerschärferfamilie, sogar weitläufige Verwandtschaft – „aber nicht so eng, dass man nicht heiraten darf“, sagt Romeo Weiß. Eigentlich ist sein Beruf schon ausgestorben. Er und seine Söhne gehören zu den Letzten.
So weit das Familiengedächtnis zurückreicht, und das sind nahezu 200 Jahre, sind die Weißens in dem Metier tätig. Sein Großvater wusste noch gewaltige Geschichten zu erzählen. Von den Alten, die als Kesselflicker, Scherenschleifer, Messerschärfer, Lumpensammler mit Pferdewagen von Dorf zu Dorf, Haus zu Haus zogen, in ihren Freiluftwerkstätten kaputte Töpfe und Pfannen wieder zulöteten, Böden wieder aufdickten.
Für ihresgleichen wurde kein roter Teppich ausgerollt. Scherenschleifer, und dieser Unterton steckt heute noch in dem Begriff, galten als sittlich nicht hasenrein. Taugenichtse, die einem das Blaue vom Himmel versprachen. Oft wurden sie unter Verwünschungen aus den Dörfern gejagt. Die Vielgereisten schimpften polyglott zurück – mit Ausdrücken, die kein Einheimischer verstand und nur Ungeheuerliches vermuten ließen.
Der Großvater von Romeo Weiß hat noch Töpfe mit Zinn geflickt. „Damals wurden nicht gleich neue gekauft.“ Schirme machte er auch wieder neu, reparierte Körbe, schärfte Messer. Das Pferdegespann hatte er schon gegen das Auto eingetauscht. Aber auch zu seiner Zeit hieß es noch: „Sperrat d’Kinder ins Haus, Zigeiner komma.“ Wobei seine Familie nicht zu den Sinti oder Roma oder Jenischen gehört, wie Romeo Weiß betont. „Wir sind halt reisendes Volk.“
Ein älteres Paar: „Wie lange sind Sie hier?“ – „Bis Donnerstag.“ – „Was kostet ein Fleischmesser?“ – „Fünf bis zehn Euro.“ – „Danke, dann überlegen wir mal, ob es sich rentiert.“
Romeo Weiß drückt ein Silbermesser ins rotierende Polierrad. Wie Hunderttausende Male zuvor. Wollte man ein Leben reduzieren auf eine Bewegung, bei ihm wär es ein Leichtes. Er macht Schälmesser wieder scharf, Brotmesser, Tomatenmesser, Steakmesser, Käsemesser, Ausbeinmesser, Tranchiermesser. Keramikmesser kann er nicht, historische Waffen darf er nicht. Kampfmesser sind eh tabu. Aber das ist sowieso nicht seine Klientel. Seine Kunden wollen wieder richtig hantieren können beim Kochen, Schneidern, Gärteln. Frisch geschärftes Arbeitsgerät macht froh.
Eine Rentnerin: „Ich habe vielleicht Arbeit für Sie. Die Schere ist 50 Jahre alt und noch von meiner Mutter.“ – „Gut. In einer Stunde können Sie sie abholen.“ – „Hm, und was mach ich in der Stunde?“ – „Sie finden bestimmt was.“
Wie viele hunderttausend Kilometer er schon runtergerissen hat mit seinem Mercedes Vito. 2009 kaufte er ihn gebraucht. „Ein guter Motor“, sagt Romeo Weiß. Daheim steht noch ein Oldtimer vom Vater, ein 813er Mercedes. Er hat nichts an dem Wagen verändert, lässt immer neuen TÜV machen. „Ich krieg das Herz nicht drüber, ihn wegzugeben.“ Er schwört auf Mercedes. Seine Söhne genauso. Einer fährt eine 500er S-Klasse. „Hat er sich zusammengespart.“
Romeo Weiß ist gewissermaßen Messerschärfer von Geburt. Schon als kleiner Junge war er mit dem Vater unterwegs. Mit sechs besuchte er dann die Wanderschule, wie er sagt. Nach drei, vier Wochen zog er meistens weiter in die nächste. „Ich hatte ein Buch, da bekam ich am Ende immer einen Stempel von der Schule rein.“ Große Freundschaften konnten so kaum entstehen „Mir hat es gefallen, weil ich viele Kinder kennengelernt hab“, sagt Romeo Weiß. Mit 13 Jahren nahm ihn der Vater ganz von der Schule. „Er hat mich gebraucht. Lesen und schreiben konnte ich ja, und mein Beruf war klar. Damals ging das noch.“
Ihm habe das nicht geschadet, sagt Romeo Weiß. Aber für seine Söhne wollte er es anders. Sie sollten einen Abschluss haben, eine Ausbildung. Der eine lernte Goldschmied, der andere Einzelhandelskaufmann. Messerschleifer sind sie trotzdem geworden. Das Familienerbe war einfach stärker. Seine Tochter ist in Bayern verheiratet. Sie ist Hausfrau wie ihre Mutter, ihr Mann bereitet Autos auf. „Meine Frau hat nicht schaffen brauchen“, sagt Romeo Weiß. „Ich bin froh, dass sie immer für unsere Kinder da war.“
Er wollte immer Messerschärfer sein. Nicht Pilot oder Rennfahrer, solche Träume gab es bei ihm nicht. „Ich wollte machen, was mein Vater macht.“ Er hat ihm alles gut erklärt. Sie waren sich nah. Dass er dann so früh starb, war schlimm. Romeo und sein Bruder übernahmen das mobile Unternehmen von heute auf morgen.
Geschäftlich ist seither jeder sein eigener Herr. Der Bruder hat sein Revier eher in der Pfalz, Romeo in Baden-Württemberg. Als Nächstes steht er eine Woche in Kirchheim unter Teck. Im Lauf des Jahres arbeitet er sich nach Süden bis zum Bodensee, da fährt er nur an den Wochenenden heim. Im Herbst zieht er weiter über Österreich bis an die Adria – dann im großen, zum Reisemobil mit Werkstatt umgebauten Mercedes und der ganzen Familie im Schlepptau. Auch in Bibione gibt es stumpfe Messer. Italienisch kann er nicht. „Aber mit Händ und Füß geht es schon“, sagt Romeo Weiß. Im Januar ist er dann mit seiner Frau zuhause in Neustadt richtig sesshaft.
Eine Rentnerin: „Hallo, ich bin schon wieder da. Sehr gut die Messer, die Sie mir geschliffen haben. Das macht wieder richtig Spaß. Ich hab jetzt noch ein paar mitgebracht.“
An diesem Tag tröpfelt das Geschäft so dahin. Fünf Kleinkunden bis 14 Uhr. In so zäh fließenden Stunden gönnt sich Romeo Weiß auch mal eine Siesta in der Fahrerkabine bei Musik von SWR 4 und mit Vanillearoma vom Duftbaum am Rückspiegel. Oder er greift in der Nachmittagshitze zur Lutherbibel. Er ist freier Christ, wie er sagt, und Mitglied einer Pfingstgemeinde. Er dankt Gott oft. Dass er morgens aufstehen kann, dass seine Frau und seine Familie gesund sind. Auch der Glaube ist ein Familienerbe. „Sie glauben doch bestimmt auch, oder?“, sagt Romeo Weiß. „Hier auf Erden sind wir Sünder, so lange wir da sind. Da hilft gar nichts.“
Wenn er sich was wünschen könnte: Dass die Leute ganz normal und freundlich sind wie hier in Steinsfurt. Nicht so stark von sich eingenommen, wie es ihm öfters unterkommt. „Auch unsere eigenen Leute, die Geld gemacht haben, schauen mich manchmal so an, als wären sie höher als ich.“
Am Mittwoch will ein Restaurant alle Messer vorbeibringen. Ein Großauftrag, das ist gut. Er kann von seiner Arbeit leben, sagt Romeo Weiß. Reich werden nicht. „Aber so ist das für mich richtig. Angestellt sein, das wäre nichts. Wenn es mir zu warm ist, kann ich meinen Laden zumachen und abfahren.“ Vielleicht an einen kühlen See zum Angeln. Man könnte sagen: sein Hobby.
Er wird von nirgendwo mehr verjagt. Er ist eine Attraktion. Oft besuchen ihn Lokalreporter, er hat alle Berichte ausgeschnitten. Er erzählt dann gern die fantastische Geschichte, wie Karl Lagerfeld in Frankreich mal seinen Chauffeur stoppen ließ, aus der Limousine stieg, Romeo Weiß eine Schere brachte und sich zu ihm hinhockte, bis sie geschärft war. „Ein ganz normaler Mann.“