An diesem Freitag wird Roman Polanski 90 Jahre alt. Für die einen ist er ein international gesuchter Gewalttäter, dem der Missbrauch Minderjähriger vorzuwerfen ist. Für die anderen ist er ein Meisterregisseur mit Ehrenplatz in der Kinogeschichte. Wie passt das zusammen?
An diesem Freitag wird der französisch-polnische Filmregisseur Roman Polanski 90 Jahre alt. Was muss man aus diesem Anlass erzählen? Eine Geschichte allein wird da nicht reichen. Es müssen wohl mindestens vier Geschichten sein.
Die erste Geschichte ist diese: 1977 wird der erfolgreiche Hollywoodregisseur Roman Polanski beschuldigt, in seinem Wohnhaus ein 13-jähriges Mädchen „unter Verwendung betäubender Mittel“ vergewaltigt zu haben. Eine außergerichtliche Einigung, die der Anwalt des Opfers anstrebt, scheitert am Richter. Polanski entzieht sich dem Prozess durch Flucht aus dem Land. Seitdem gilt er für amerikanische Behörden als Justizflüchtling, seit 2005 wird er mit internationalem Haftgebefehl „gesucht“. Der Regisseur besitzt zwar die französische und die polnische Staatsbürgerschaft, muss aber jedes Land meiden, das ein Auslieferungsabkommen mit den USA abgeschlossen hat.
Der international gesuchte Straftäter
Für viele Frauenrechtsaktivistinnen ist der Fall Polanski ein Musterbeispiel, wie sich prominente Künstler trotz schwerster Missbrauchsstraftaten der juristischen Verantwortung entziehen können. Dies verstärkt sich noch, als 2017 und 2019 zwei weitere Frauen den Vorwurf erheben, als Minderjährige in den 1970er Jahren von Polanski vergewaltigt worden zu sein. 2018 streicht die Oscar-Akademie den Künstler als „unerwünscht“ von ihrer Mitgliederliste. Roman Polanski, so endet vorerst diese Geschichte, ist ein international gesuchter Straftäter.
Die zweite Geschichte ist diese: Roman Polanski ist ein Überlebender der Schoah. Geboren wird er 1933 in Paris. Doch vor dem wachsenden Antisemitismus auch in Frankreich fliehen die Eltern 1937 ausgerechnet in ihre alte Heimat, nach Polen. Seine Mutter wird 1943 in Auschwitz ermordet, sein Vater übersteht nur knapp die Haft im KZ Mauthausen. Der damals zehnjährige Roman kann am 13. März 1943 aus dem Krakauer Ghetto fliehen und wird von einer polnischen Bauernfamilie versteckt.
Schlimmer als das Blut ist das Schicksal
Doch dies sind nicht die einzigen drastischen Gewalterfahrungen, die Polanski überstehen muss. Im Sommer 1969 lebt er, inzwischen international erfolgreicher Regisseur, mit seiner Frau Sharon Tate in Los Angeles. Psychopathische Anhänger des rassistischen Popmusikers und Sektenführers Charles Manson überfallen das Haus des Ehepaars und metzeln darin fünf Menschen nieder, darunter auf besonders bestialische Weise die hochschwangere Sharon Tate. Nach einer langen Zeit tiefer Depression geht Polanski erst drei Jahre später wieder an die Öffentlichkeit: mit einer Schwarz-Weiß-Verfilmung von Shakespeares vielleicht düsterster Tragödie, „Macbeth“. Doch viel düsterer als das Blut, das hier fließt, sind für Polanski die drei Hexen, die er an den Anfang und das Ende seines Films stellt: ihre Prophezeiungen schlimmsten Schicksals, dem niemand auf der Welt entgehen kann, so inständig er es auch versucht.
Womit wir schon mitten in der dritten Polanski-Geschichte sind. Sie handelt von seinem großartigen und in vielerlei Hinsicht herausragenden Werk. Bereits in seinem Debüt „Das Messer im Wasser“, noch in Polen entstanden, bringt er sein Thema (sein Lebensthema?) auf den Punkt: der einzelne Mensch, in der Gesellschaft geradezu klaustrophobisch eingeschlossen, den Mitmenschen ebenso ausgeliefert wie seinen eigenen Ängsten, stets Opfer und Täter zugleich.
Im Vampirschloss geht es auch zur Sache
Im bis heute sehenswerten Detektivthriller „Chinatown“ (1974) muss der Held (Jack Nicholson) den Kampf gegen die korrupte bessere Gesellschaft mit seiner halben Nase bezahlen. Im „Gott des Gemetzels“ (2011) wird eine grandios zerdeppernde Blumenvase zum Symbol all dessen, was sich vier saturierte Bildungsbürger an gezielten Gemeinheiten gegenseitig zuvor zugefügt haben. In „J’accuse“ (2019) ist es der Spießrutenlauf, den der Offizier Dreyfus durch die Reihen der von Judenhass schier triefenden Soldaten erleiden muss. Und selbst die wunderbare Burleske „Tanz der Vampire“ (1967) lässt sich auch sehen als ein Stück über das Ausgeliefertsein höchst verwundbarer Individuen im düsteren Vampirschloss, wo die Welt nach sehr eigennützigen Gesetzen funktioniert.
Am besten, weil am bestürzendsten sind Polanskis Filme aber immer dann, wenn der Einzelne zum Schluss das ihm zugedachte tödliche Schicksal als scheinbare Selbstbestimmung annimmt. Deshalb sind der stilbildende Horrorfilm „Rosemaries Baby“ (1968) und der Psychothriller „Der Mieter“ (1975) bis heute Referenzwerke.
Auf Beethoven antwortet der Pianist mit Chopin
Ausgerechnet in Polanskis wohl bisher wichtigstem Film, „Der Pianist“ (2002), nimmt die Geschichte aber just an dieser Stelle eine märchenhafte Wendung: Als der Musiker Wladyslaw Szpilman (gespielt von Adrien Brody) auf seiner verzweifelten Flucht durch die Ruinen des Warschauer Ghettos hört, wie irgendwo auf einem Klavier Beethovens Mondscheinsonate erklingt, verlässt er seine Deckung, obwohl er weiß, dass dies vermutlich sein Tod sein wird. Und tatsächlich: Alles spricht dafür, dass der deutsche Offizier Wilm Hosenfeld, dem er so gegenübertritt, ihn sofort erschießen wird. Doch Szpilman antwortet der Musik Beethovens mit einer Ballade von Frederic Chopin – und wird, dank Hosenfeld, überleben. Es gibt nur wenige Momente der Kinogeschichte, die so utopisch geraten sind wie dieser, ohne unfreiwillig in Kitsch zu versinken.
Die US-Filmakademie zeichnet Polanski für seinen Film „Der Pianist“ 2003 mit dem Oscar aus. Es ehrt den auf der Gala abwesenden Regisseur mit minutenlangen Ovationen im Stehen. Es ist die gleiche Akademie, die ihn 15 Jahre später als „unerwünscht“ von der Mitgliederliste streichen wird.
Im neuen Film spielt Oliver Masucci mit
Womit wir bei der vierten Geschichte sind: In wenigen Wochen wird Polanski seinen neuesten Film „The Palace“ auf dem Filmfestival von Venedig präsentieren. Es geht darin wieder um Menschen, die in einem Raum eingeschlossen sind, in diesem Fall in einem luxuriösen Schweizer Hotel, und die alle irgendeine Geschichte miteinander haben. Mickey Rourke, Fanny Ardant, John Cleese und der Deutsche Oliver Masucci spielen hier die Hauptrollen. Es wird einen roten Teppich geben.
Und damit unweigerlich Debatten, analoge und vor allem natürlich virtuelle: Wie kann ein großes Filmfestival diesem Künstler noch solch ein Forum bieten? Es wird um die Frage gehen, ob und wie man die ersten drei Polanski-Geschichten in einen schlüssigen Zusammenhang bekommt. Aber wie in so vielen Fällen gilt auch hier: Ja, Biografie und Werk hängen untrennbar miteinander zusammen. Und sind in der Kunst doch getrennt voneinander zu bewerten.
Der umstrittene Regisseur und sein Werk
Disput
Als Roman Polanskis Film „Intrige“ („J’accuse“) 2020 gleich zwölf Mal für den französischen Filmpreis César nominiert wird, tritt die gesamte Führung der Filmakademie aus Protest zurück. Der Film bekommt zum Schluss tatsächlich drei Preise: für Kostüme, Drehbuch und Regie.
Terror
Steven Spielberg berichtet, dass er Anfang der 1990er Jahre Roman Polanski gewinnen wollte als Regisseur für sein Filmprojekt „Schindlers Liste“. Polanski lehnte ab, weil er sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Thema persönlich überfordert sah. Erst Jahre später fühlte er sich in der Lage, den Film „Der Pianist“ mit den persönlichen Erfahrungen aus der Zeit des Naziterrors zu verweben.