Das Wohnquartier in der Harzer Straße gilt als Vorzeigeprojekt. Foto: dpa

Ein Vorzeigeprojekt in Berlin zeigt, wie Deutschland mit der Zuwanderung umgehen kann. 600 Menschen wohnen in einem Häuserkomplex. Ein Besuch.

Ein Vorzeigeprojekt in Berlin zeigt, wie Deutschland mit der Zuwanderung umgehen kann. 600 Menschen wohnen in einem Häuserkomplex. Ein Besuch.

Berlin - Das Rattenhaus von Neukölln. So sahen noch vor drei Jahren viele Anwohner das Wohnquartier an der Harzer Straße in Neukölln. Im Innenhof steht Benjamin Marx (59). „Hier türmten sich Müllberge, in denen Ratten wühlten, daneben spielten Kleinkinder“, sagt der Mitarbeiter der Aachener Wohnungsgesellschaft. Schätzungsweise 2000 Ratten soll es gegeben haben. Kein Ort zum Glücklichwerden, sagt Marx.

An diesem frühlingshaften Tag passt diese Aussage nicht mehr zur Wirklichkeit. In der Sonne leuchten die bunten Wandgemälde an der Fassade des Gründerzeitbaus auf, Kinder spielen auf dem frisch gesäten Rasen. Marx schlendert über einen asphaltierten Weg im Innenhof, der so blank gefegt wirkt wie ein Fußweg auf der Bundesgartenschau.

An diesem Mittag führt Benjamin Marx von der Aachener 20 ausländische Journalisten durch die Siedlung. Die Reporter kommen aus Holland, Japan, den Vereinten Arabischen Emiraten, Frankreich und Spanien.

Marx betritt einen dunklen Raum und drückt den Lichtschalter. Ein überlebensgroßes Herz aus Plastik, das an Stahlketten von der Decke hängt, taucht den Raum in ein warmes Rot. „Diese Herz-Skulptur hat ein Künstler gestaltet. Sie besteht nur aus Plastikabfall, der sich im Innenhof gesammelt hat“, erklärt der Gastgeber.

600 Menschen leben in den frisch renovierten Wohnungen

Die Journalisten wollen wissen, wie viele Personen hier leben. „600 Menschen verteilen sich auf 137 Wohnungen. Es handelt sich überwiegend um Roma.“ Wie hoch ist die Miete pro Quadratmeter? „Die Bewohner zahlen zwischen 4,50 Euro und 7,80 Euro.“ Wie bezahlen die Roma die Miete, und wie viele beziehen Hartz IV, fragt ein holländischer Journalist. Und wie viele Roma können ohne Zuschüsse leben? „Das weiß ich nicht“, sagt Marx. „Wissen Sie, die schlimmste Frage ist für mich immer: Wie kann man ein solches Projekt für Roma machen, lohnt sich das überhaupt?“

Diese Frage hat sich Benjamin Marx nicht gestellt, als er 2011 den Kaufvertrag für die maroden Gebäude unterschrieb. Der Müll kam weg, die Räume wurden entrümpelt. Marx’ Unternehmen sanierte die acht Häuser der Siedlung und renovierte alle 137 Wohnungen. Die Aachener richtete eine Werkstatt für Workshops ein und einen Raum, in dem die Bewohner Deutsch lernen. Die rumänischen Anwohner lernten, wie man mit Amtsbriefen umgeht, welche Schulen es in der Umgebung gibt, wo Kinder betreut werden. Wie viel das gekostet hat, will der Mitarbeiter der Wohnungsgesellschaft nicht sagen, nur dass „die Aachener kein Verlustgeschäft gemacht hat“.

Die Wohnanlage Arnold-Fortuin-Haus, benannt nach dem Pfarrer Arnold Fortuin, der Roma und Sinti vor den Nazis rettete, ist ein Beispiel dafür, wie es einem Bezirk auf gute Weise gelingt, mit Zuwanderung umzugehen. Benjamin Marx sagt, dass es sicherlich auch noch Probleme gibt. „Ich bin aber davon überzeugt, dass die Grundprinzipien auch in anderen Häusern helfen.“

Fast alle Bulgaren und Rumänen zahlen in Sozialsystem ein

In Neukölln arbeitet der Bezirk schon seit Jahren daran, Roma zu integrieren. Die Bezirksstadträtin Franziska Giffey (SPD) ist so etwas wie die inoffizielle Roma-Beauftragte. „Wir haben hier im Bezirk natürlich keine Welle an Hochgebildeten und Doktoranden, die auf uns zurollt“, sagt die Bezirksstadträtin für Bildung und Kultur. „Es ist aber nun einmal auch so, dass alle Rückführungsprogramme gescheitert sind. Jede Polemik gegen Armutszuwanderung geht am Recht auf Freizügigkeit vorbei.“

Seit 1. Januar 2014 gilt für Rumänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Arbeitnehmer und Selbstständige haben das Recht auf Aufenthalt, das keinen Bedingungen unterliegt. Dies gilt auch für Familienangehörige. Kritiker befürchten „eine Einwanderung ins deutsche Sozialsystem“. Tatsächlich nahm die Anmeldung von Gewerben in den vergangenen Jahren kontinuierlich zu – vor allem bei Bau- und Abrissarbeiten sowie im Reinigungs- und Transportgewerbe. Allerdings arbeiten fast alle Roma in der Harzer Straße seit mehreren Jahren und zahlen auch in das Sozialsystem ein.

Auch wenn die Zahl zuletzt deutlich gestiegen ist, gibt es im Vergleich zur Gesamtzahl der Hartz-IV-Bezieher wenige Bulgaren und Rumänen, die auf Leistungen der Jobcenter angewiesen sind. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit machen Bulgaren und Rumänien lediglich 0,7 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger aus: im November 2013 deutschlandweit knapp 44 000.

Die Probleme, aber auch die Erfolge der Zuwanderung nach Neukölln, sagt Giffey (35), zeige ein 30-seitiges Dokument. Der sogenannte Roma-Statusbericht, den das Bezirksamt jedes Jahr neu herausgibt. „Zurzeit leben ungefähr 5500 Bulgaren und Rumänen in Neukölln, die auch beim Amt gemeldet sind.“ Das Amt schätzt jedoch, das nahezu 10 000 Zuwanderer tatsächlich hier leben.

Private Hauseigentümer profitieren von Untervermietungen

Einige Häuser stellen den Bezirk vor große Probleme. In der Stuttgarter Straße in Neukölln etwa wohnen offiziell 60 Menschen. Der Bezirk geht wegen des hohen Wasserbrauchs aber von 200 aus. „Wir können die Gebäude nicht räumen. Das widerspricht zunächst der gesetzlichen Unverletzlichkeit der Wohnung“, sagt Giffey. Zudem fehlten alternative Unterkünfte. „Wir müssten die Menschen dann in Hostels unterbringen.“ Für private Hauseigentümer sei die illegale Untervermietung mittlerweile ein weit verbreitetes Geschäftsmodell.

Aber der Bezirk hat auch gute Nachrichten zu vermelden. „An den Schulen arbeiten Sprachvermittler, die bei der Kommunikation mit den Kindern helfen“, sagt die Stadträtin. Zudem haben Schulen „Willkommensklassen“ eingerichtet, in denen die Kinder Deutsch lernen. Die Maßnahmen helfen den Schülern: „Zum überwiegenden Anteil sind sie lernwillig, offen und hoch motiviert“, heißt es in dem Statusbericht.

Die Ursachen für die Zuwanderung sind in den Heimatländern zu suchen, sagt Franziska Giffey. Allein 90 Roma-Familien stammen aus dem kleinen rumänischen Dorf Fantanele, 35 Kilometer von der Hauptstadt Bukarest entfernt. Um herauszufinden, was ihren Bezirk noch erwartet, besuchte Giffey im vergangenen Jahr das Dorf mit einer Delegation vom Bezirksamt besucht. „Wir haben viele verrammelte Häuser gesehen, deren Bewohner nach Deutschland gezogen sind“, sagt sie. Der einzige große Lebensmittelladen habe geschlossen, den Schulklassen fehlten die Schüler.

Die Roma besuchen täglich einen Deutsch-Kurs

Die Harzer Straße, eine Woche später: David, zwölf Jahre alt, ist einer der ehemaligen Schüler aus Fantanele. Er lebt seit vier Jahren hier. Wie viele trägt er einen biblischen Namen; die meisten Roma aus der Harzer Straße gehören den evangelikalen Pfingstlern an. David krempelt seine Ärmel hoch und zieht sich weiße Handschuhe an. Er arbeitet in der hauseigenen Werkstatt unter Anleitung eines Betreuers in einem Handwerk-Workshop. Mit zwei erhitzten Metallplatten verformen David und der Betreuer Abfallkunststoff und modellieren kleine Kunstwerke: Schüsseln, Mülleimer, kleine Stühle. „Bis 19 Uhr bin ich hier, dann gibt es Abendessen zu Hause“, sagt David in leicht gebrochenem, aber korrektem Deutsch. Er geht auf die benachbarte Schule und träumt davon, eine Ausbildung zu machen.

Herr Marx von der Wohnungsgesellschaft verabschiedet sich aus der Werkstatt und steuert den vorderen Teil des Wohnquartiers an. Er grüßt Roma auf der Straße.

Im Vorderteil des Hauses befindet sich das Zentrum der Erziehungshilfe Aspe. Um 17 Uhr fängt der Deutschkurs an. An dem großen Tisch sitzt die Lehrerin Crina Marschalleck, daneben sechs Roma-Frauen. „Heute machen wir einen Vokabeltest. Es geht um Adjektive“, sagt Marschalleck. Marx fragt eine Schülerin: „Und, verstehen Sie schon besser?“ Die ältere Dame lächelt. „Ja, ich verstehe ein bisschen, ja.“ Jeden Tag ein wenig mehr.

Leicht zu verstehen war das Wort, das Benjamin Marx ein paar Tage zuvor in der Gruppe mit den ausländischen Journalisten gezeigt hat. Im Raum, in dem das Herz von der Decke hängt, steht ein globales Wort in roter Schrift an der Wand geschrieben: „Amor“. Es ist eine Botschaft. Auch von rückwärts gelesen hat es einen Sinn.