Roland Ostertag (1931–2018) in seiner bauhistorischen Stuttgart-Ausstellung Foto: Jan Reich

Der Stuttgarter Architekt hat sich in seiner Heimatstadt für viele Projekte wie das Hotel Silber und die Gedenkstätte Zeichen der Erinnerung eingesetzt. Sein Kampf gegen Stuttgart 21 aber war vergeblich.

Stuttgart - Manchmal schien es fast, als ob er einen Doppelgänger hatte, mindestens einen. Denn Roland Ostertag war überall. Ob bei Podiumsdiskussionen zu strittigen Bauprojekten oder Architekturvorträgen an der Universität, ob im Theater, im Konzert oder in der Oper – der Stuttgarter Architekturprofessor mit der strubbeligen Guildo-Horn-Frisur saß immer schon in einer der vorderen Reihen, wenn nicht sogar selbst auf dem Podium. Denn er war nicht nur ein Bildungsbürger alter Schule par excellence, sondern einer, der sich permanent einmischte: hartnäckig bis zur Penetranz, dadurch für manche Zeitgenossen oft ein lästiger Quertreiber und in vieler Hinsicht für Stuttgart doch ein Segen.

Man kann sogar ohne Übertreibung sagen, dass die Stadt ohne Roland Ostertag heute anders aussähe. Ob Bosch-Areal, Hotel Silber oder Altes Schauspielhaus, ob die Lusthausruine oder die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ am Stuttgarter Nordbahnhof – ohne Ostertags Einsatz gäbe es all diese Orte nicht beziehungsweise nicht mehr.

Frei von Eitelkeit war der Architekt bei seinen Aktivitäten keineswegs. Wer sich erlaubte, Ostertags Verdienste um ein Projekt zu übergehen, sei es nun irrtümlich oder mit Absicht, bekam seinen Ärger schnell zu spüren. Die eigentliche Triebfeder seines Engagements aber war Verantwortungsgefühl, wie er in einem Interview zu seinem 85. Geburtstag vor zwei Jahren bekundete: „Verantwortung für das, was uns als Menschen umgibt. Pathetisch ausgedrückt: Verantwortung für die Schöpfung. Und im Übrigen Verantwortung für das, was nach uns kommt.“

Sein gebautes Werk war ihm wichtig

Daran mag es liegen, dass der Ostertag der späteren Periode vor allem als streitbarer Bewahrer im Gedächtnis bleibt, weniger als bauender Architekt, obwohl ihm seine Profession wichtig war. Stolz verwies er darauf, dass neun seiner rund neunzig zumeist im nüchternen Stil der Nachkriegsmoderne entworfenen Gebäude inzwischen denkmalgeschützt sind – nach eigener Aussage „mit Abstand die meisten unter Denkmalschutz stehenden Bauten eines Architekten in Baden-Württemberg“. Er selbst führte dieses Klassikertum zu Lebzeiten darauf zurück, dass er nie modisch gebaut habe, wovon Häuser wie das Rathaus in Kaiserslautern (1960) oder die Gutenbergschule im Hallschlag (1976) zeugen. Strömungen der Zeit sind aber auch an ihm nicht komplett vorbeigegangen, zu sehen etwa am westlichen Eckgebäude des Bosch-Areals mit seinem Glasturm, der Erich Mendelsohns abgerissenes Stuttgarter Schocken-Kaufhaus aus den zwanziger Jahren ziemlich postmodern zitiert.

Geboren wurde Roland Ostertag am 19. Februar 1931 in Ludwigsburg. Sein Architekturstudium absolvierte er an der (damals noch als Technische Hochschule firmierenden) Universität Stuttgart und war dann am Lehrstuhl von Curt Siegel und beim legendären Jürgen Joedicke, dem Gründer des ersten Instituts für Architekturtheorie an einer deutschen Hochschule, tätig. Dazu machte er sich, kaum dass er das Diplom in der Tasche hatte, als Architekt selbstständig. 1970 folgte die Berufung als Professor ans Institut für Gebäudelehre und Entwerfen der TU Braunschweig, das er fast dreißig Jahre, bis 1998, leitete. Noch während seiner Hochschulzeit war er daneben Gastprofessor in Wien und stand der Bundesarchitektenkammer von 1993 bis 1996 als Präsident vor.

Seinen Wurzeln blieb er trotz der langjährigen Verpflichtung in nördlichen Gefilden treu. Sprachlich konnte Ostertag mit seinem lupenreinen Honoratiorenschwäbisch seine Herkunft ohnehin nie verleugnen. Aber auch das Einsatzgebiet seines bürgerschaftlichen Engagements war nicht Braunschweig, sondern Stuttgart. Hier focht er furcht-, aber erfolglos gegen das „Milliardengrab“ Stuttgart 21, das er als stadtzerstörerisches Projekt kritisierte – ein Don Quichotte im Kampf gegen die unerbittlich rotierenden Windmühlenflügel der politischen Mehrheiten und der Justiz.

Vitales kulturelles Zentrum im Westen

„Der Erfolg ist eine Schnecke“, pflegte er zu seufzen, entmutigen ließ er sich von Rückschlägen aber nie. Vergeblich waren hier auch seine diversen Anläufe, die Stadt stärker mit ihren Flüssen zu verbinden. Umso erfolgreicher machte er sich dagegen für die Erhaltung des Hotels Silber, der früheren Stuttgarter Gestapozentrale, als Erinnerungsort stark, und hier am Neckar bewahrte er auch das Jugendstilgebäude des Alten Schauspielhauses ebenso wie das historische Ensemble des ehemaligen Bosch-Firmensitzes vor dem Abriss.

Im Arbeitszimmer von Robert Bosch mit dem originalen Mobiliar des Firmengründers befindet sich heute der Besprechungsraum des Stuttgarter Literaturhauses. Nicht auszudenken, dass dieses Haus, ein Zeugnis der Stuttgarter Industriegeschichte, der Abrissbirne zum Opfer gefallen wäre, wonach es eine Zeit lang aussah – dem damaligen OB Manfred Rommel hätte nach alter Stuttgarter Tabula-rasa-Gewohnheit eine Neubebauung des Quartiers besser gefallen. Zusammen mit der Liederhalle bildet das von Ostertag umgebaute Bosch-Areal mit seiner Mischung aus Geschäften, Gastronomie, Büros, Wohnungen und dem gewölbten Glasdach über dem Innenhof heute ein vitales kulturelles Zentrum der Stadt.

Die Stadt als Lesebuch

Stadt, pflegte Roland Ostertag zu sagen, sei wie ein Lesebuch. Wer zu viele Seiten herausreiße, verstehe irgendwann die Geschichte nicht mehr. Gemünzt war das auf die zahlreichen Abrisse in Stuttgart seit Wiederaufbautagen. Ostertag selbst war mit der Zeit zum wandelnden Gedächtnis der Stadt geworden. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, wurde über kurz oder lang in die baugeschichtliche Stuttgart-Ausstellung beordert, die der Architekt am Gähkopf in der ehemaligen Privatgalerie des Kunstsammlers Hugo Borst eingerichtet hatte. Dieses beeindruckende Archiv mit seinen historischen Stadtplänen und -ansichten, mit dem riesigen Stadtmodell und seiner Bibliothek zu bewahren und für Forschung und Öffentlichkeit weiterhin zugänglich zu machen, sollte der Stadt ein Anliegen sein.

Dass dieses Vermächtnis zum Nukleus eines längst fälligen Stuttgarter Architekturmuseums werden könnte, ist wahrscheinlich eine allzu kühne Hoffnung. Zu wünschen bleibt gleichwohl, dass sich Nachfolger finden, die sich mit gleicher Verve in die Debatte um die bauliche Zukunft der Stadt werfen wie Roland Ostertag. Denn der Posten des Einmischers und Bewegers ist jetzt vakant. Am vergangenen Freitag ist Roland Ostertag nach schwerer Krankheit mit 87 Jahren in seinem Wohnhaus im Stuttgarter Norden gestorben.