Rein rechnerisch benötigt jeder Bundesbürger in der Stunde ein Kilogramm Steine. Mit dem, was in Grabenstetten abgetragen wird, werden Häuser, Straßen, Bahntrassen und Windräder gebaut. Stein befindet sich sogar in der Zahnpasta. Es gibt allerdings ein Problem.
Das Wetter ist zu mies, um Steine in die Luft zu jagen. Es schüttet. Das Bohrgerät lässt sich davon aber nicht stören, oben an der Abbruchkante stanzt es ein Loch neben dem anderen in den Felsen. Hier wird der Sprengstoff eingefüllt, sobald der Himmel wieder mitspielt. Die Arbeiter im Steinbruch haben trotzdem schwer zu schaffen. Von der vorigen Sprengung ist noch genug Geröll übrig. Am untersten Punkt der Talsohle schaufelt ein Radlader mit Spezialkettenrädern den mineralischen Rohstoff auf wendige Lastwagen. Die fahren das Steingut am laufenden Band hinüber zum Werk und den Maschinen, die es tosend sieben, schreddern oder zermahlen.
Der Steinbruch bei Grabenstetten, am Rande der Schwäbischen Alb, zählt zu den größeren in Baden-Württemberg. Die rund 30 Mitarbeiter „ernten“ im Jahr Gestein im sechsstelligen Tonnenbereich. Konkreter möchte Wolfgang Bauer aus Wettbewerbsgründen nicht werden. Was er sagt: „Wir haben unseren Schwerpunkt von der Gewinnung großer Mengen hin zur Veredelung verlegt.“ Der 60-Jährige ist Geschäftsführer des Verbunds Schottervertrieb Vordere Alb (SVA), in dritter Generation.
Unter dem Namen Möck werden an der Steige zum Lenninger Tal seit fast 80 Jahren Rohstoffe abgebaut, und auch schon vorher wirtschaftete hier ein Steinbruch. Zwar haben sie immer wieder erweitert, im Vergleich zu früher sei der Steinbruch aber geschrumpft, sagt Wolfgang Bauer. Der größte Teil sei bereits wieder rekultiviert – heißt: mit Erdaushub von Baustellen in der Umgebung aufgefüllt. Seitdem holt sich die Natur die Fläche zurück. Bäume und Büsche überwuchern die Narbe des Baubooms.
Zutaten für die Schnellbahnstrecke
In den aktiven Teil des Steinbruchs führt eine Straße, die vom Lehm fahl gelblich glänzt. Es sieht aus, als hätte jemand eine riesige Latte Macchiato verschüttet. Zu Fuß ist hier niemand unterwegs. Es ist ein Ort der Risiken. „Wir haben einen natürlichen Respekt vor dem, was passieren kann“, sagt Bauer, während er per Allradantrieb durch die steinerne Mondlandschaft steuert. Die Szenerie wirkt nicht wie von dieser Welt. Dabei wird hier der wichtigste Grundstoff für die Bauwerke dieser Welt gewonnen. Zutaten für die Schnellbahnstrecke von Stuttgart nach Ulm wurden zum Beispiel auch an der Steige in Grabenstetten abgesprengt.
Mit Stein haben im Alltag alle zu tun. Er steckt in jeder Straße, in jedem Glas, in jeder Brücke, in jedem Haus, sogar in Zahnpasta. In Sandkästen und Schotterwegen sowieso. Das, was sie in Grabenstetten abbauen, kann in jeder x-beliebigen Körnung geordert werden: brockig, grob gemahlen oder fein gemahlen. Der helle Albfels wird je nach Kundenwunsch geformt. Zerkleinert wird er in einem großen Kegelbrecher.
Als Thomas Beißwenger 1985 Abitur gemacht hat, habe man gesagt, Deutschland sei gebaut. Es kam anders. Der Biologe ist Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands Steine und Erden in Baden-Württemberg und damit ein Interessensvertreter der steinabbauenden Betriebe. Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. Der Stein an sich ist dabei nicht das Problem, sondern das, was mit ihm gemacht wird, nachdem er den Steinbruch verlassen hat.
Die Zement- und Kalkindustrie gehört zu den größten Emissionsquellen. Weltweit ist sie laut Zahlen unter anderem der britischen Denkfabrik Chatham House für acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Sie gelten als unvermeidbar, weil sie größtenteils bei chemischen Prozessen in der Verarbeitung entstehen. Die Politik will mit Abscheidung reagieren, sprich das klimaschädliche Gas soll irgendwo gebunkert oder, noch besser, weiterverwendet werden.
Deutschland baut sich in der Energiewende um
So hart das vor diesem Hintergrund ist: Ohne Stein wird keine Stadt hochgezogen, das gehört nicht nur beim legendären Brettspiel Siedler zur Regel. Wobei, Städte hat Deutschland genug. Ohne Steine wird aber eben auch keine Infrastruktur erschaffen. Und was das betrifft, baut sich Deutschland ja quasi in der Energiewende – von der Bahntrasse bis zur Stromleitung – um. „Jedes Windrad braucht ein Fundament und einen Turm, das wird ohne mineralische Rohstoffe nicht gehen“, sagt Thomas Beißwenger.
Steinbrüche seien eine „Bedarfsdeckungsindustrie“, sagt er. Sie bauen so viel ab, wie die Menschen gerade brauchen. Rein rechnerisch benötige jeder Bundesbürger in der Stunde ein Kilogramm Steine. Dieser Wert sei recht konstant. Zehn bis 15 Prozent des Rohstoffbedarfs könne über Bauschutt, der zu 90 Prozent wiederverwertet werde, gedeckt werden. Eine recht hohe Quote, findet Beißwenger.
Den Mix aus Neu und Alt stellen sie auch in Grabenstetten her. Seit 30 Jahren schon. Wolfgang Bauer hat den Pick-up vor einem Haufen gebremst. Haufwerk sagen sie hier dazu. Er ist dunkel gesprenkelt, weil dem Naturstein eine ehemalige Straße oder Brücke beigemischt ist. Es gibt keine Vorgabe, beim Bau anteilig Recyclingmaterial zu verwenden, wohl aber den Anreiz durch Förderungen, wie zum Beispiel in Baden-Württemberg. Das Problem: Es wird mehr gebaut als abgerissen, Stein aus zweiter Hand ist rar.
Deshalb geht den Steinbrüchen die Arbeit nicht aus. „Denken Sie nur an die ganzen zu sanierenden Brücken“, sagt Wolfgang Bauer. Und dennoch ist die Zahl der Steinbrüche leicht rückläufig. In der Gegend habe erst gerade ein Betrieb aufgehört, erzählt er. Und der Grabenstetter Steinbruch hat bereits 2006 mit dem nah gelegenen Steinbruch in Erkenbrechtsweiler eine Vertriebsgesellschaft gegründet: die Schottervertrieb Vordere Alb GmbH & Co KG.
Mensch nutzt Naturstein schon Ewigkeiten
Laut Birgit Kimmig, leitende Regierungsdirektorin beim Regierungspräsidium Freiburg, werden in Baden-Württemberg in gut 200 Steinbrüchen Kalk- und Mergelsteine, Grundgebirgsgesteine, Sandsteine und Sulfatgesteine abgebaut. Zudem gebe es im Land etwas mehr als 230 Sand- und Tongruben. „Die Trennung zwischen Brüchen und Gruben ist nicht immer ganz scharf.“
Der Mensch nutzt Naturstein schon Ewigkeiten für seine Zwecke. Früher hatte fast jedes Dorf einen eigenen Steinbruch. Als es noch keine Absauganlagen gab, litten die Arbeiter oft unter Staublungen. Es waren Zeiten, in denen die Steine mit Ochsenkarren von A nach B bugsiert wurden. Viele der Steinbrüche sind heute stillgelegt, der Lieferradius ist dennoch überschaubar geblieben. Ab 30, 40 Kilometern übersteigen die Transportkosten den Warenwert. Denn Stein ist schwer und günstig. China ist hier ausnahmsweise mal keine Konkurrenz.
Heller Stein beliebt für Putz
In Deutschland ist das Rohstoffvorkommen ungleich verteilt. „Nördlich der Mittelgebirge, in der Oberrheinebene und südlich der Donau gibt es keine Steinbrüche“, sagt Beißwenger vom Verband. „Dafür wird in diesen Gebieten Kies und Sand gefördert und damit gebaut.“ Die Schwäbische Alb jedenfalls ist, was Stein betrifft, ein El Dorado. Und das beste: der Stein ist recht hell. Das ist beliebt zum Beispiel für Putz. Aber auch für die Stadt der Zukunft, die wegen der Hitze eher hell sein sollte, ist das von Vorteil.
Inzwischen ist Wolfgang Bauer aus dem Steinbruch gefahren, hat ihn umrundet und steht auf einem Feldweg oberhalb der Abbruchkante. 80 Meter geht es steil bergab. Aus dieser Perspektive ist das Abbaugebiet eine Lücke, ein vom Menschen aus der Landschaft geschnittenes Stück Natur. Zu sehen sind nicht nur die Lastwagen, die den Stein zum Werk fahren, sondern auch solche, die Erde abladen. Es ist zum Beispiel der Aushub von Neubauten in der Region. Die Stellen, an denen der Steinbruch nichts mehr hergibt, werden direkt wieder aufgefüllt.
Sie möchten auf stillgelegten Flächen eine Solaranlage installieren. „In Erkenbrechtsweiler sind wir in der Bebauungsplanphase“, sagt Bauer. Eine Leistung von bis zu acht Megawattpeak – zur Hälfte für die Gemeinde – könnte herausspringen. Für Grabenstetten gebe es noch keine Daten. Die einstigen Abbaustätten würden sich aus Bauers Sicht bestens eignen. Zu sehen wären sie nur aus der Luft. Er denkt zudem visionär. In seinem Steinbruch könnte künftig mit überschüssigem Sonnenstrom Wasserstoff produziert werden. Ein Rohstoff, dem eine glänzende Zukunft vorausgesagt wird.