Die Viertklässlerin PJ hat Leukämie und muss sich deshalb isolieren. Seit Februar nimmt sie als erstes Stuttgarter Kind per Avatar am Unterricht teil. Für diese Form der Teilhabe hat sie sogar einen Schulwechsel auf sich genommen. Wie läuft es nun?
Um 9 Uhr gehen beim Roboter AV1 die Lichter an. Es sieht jetzt aus, als hätte er Augen. Eine bunte Holzperlenkette hängt um den Hals der kleinen weißen Maschine, die quasi aus Kopf und Rumpf besteht. Gebastelt hat sie PJ – das ist der Rufname einer bald zehnjährigen Schülerin der Merkurklasse der Galileo-Grundschule.
PJ hat Leukämie. Sie kann deshalb nicht in die Schule kommen. Die Infektionsgefahr ist zu hoch. Seit Juni 2021 lebt sie isoliert. Sie hat noch nie auf ihrem Stuhl in der zweiten Reihe der vierten Klasse gesessen. Und doch ist sie da, in diesem Moment. Möglich macht das der Roboter, der auf ihrem Platz steht.
„Hallo PJ, guten Morgen“, ruft die Klassenlehrerin Anja Härterich. Dann sprechen es die Mädchen und Jungen aus dem Raum im Chor: „Guten Morgen, PJ“ – und klatschen. Deutsch steht auf dem Stundenplan. Bevor sie mit dem Stoff startet, macht Anja Härterich einen Schritt auf die Maschine zu: „Kannst du gut sehen und hören?“Eine Mädchenstimme kommt aus dem Lautsprecher: „Ja, ich kann sehen und hören!“
Entwickelt für Langzeiterkrankte
PJ ist das erste kranke Kind in Stuttgart, das mithilfe eines Roboters beschult wird – und eines der ersten in Baden-Württemberg. Auch ein Kind in Freiburg hatte zwischenzeitlich einen Avatar. Weitere Einsätze sind dem Kultusministerium im Land aktuell nicht bekannt. Aber die Geräte kennt man natürlich. Man habe selbst schon einen Avatar im Bildungsausschuss des Landtags präsentiert, berichtet ein Sprecher.
Der Roboter, den das norwegische Start-up No Isolation entwickelt hat, soll Schülerinnen und Schülern mit einer Langzeiterkrankung Teilhabe am Schulunterricht und damit auch Schulalltag ermöglichen. Die wichtigsten Pluspunkte gegenüber der Teilnahme per normalem Videocall: Das Kind kann die Blickrichtung der Kamera verändern, sich über ein Leuchtsignal melden und seine Stimmung zeigen – ob die Augen glücklich, traurig oder nachdenklich schauen sollen. Zudem sieht der Roboter noch knuffig und futuristisch zugleich aus.
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Normalerweise sitzt PJ am Esstisch im Wohnzimmer ihres Zuhauses im Stuttgarter Westen, wenn sie sich in den Unterricht dazuschaltet. Doch an diesem Morgen ist sie rund 2,3 Kilometer entfernt im Olgahospital des Klinikums Stuttgart. Sie ist zur Chemotherapie da und verbringt den Vormittag im Krankenhaus. Die Unterrichtsstunde ist für sie auch eine gute Ablenkung. Das Tablet, mit dem sie den Avatar steuert, kann sie problemlos dorthin mitnehmen.
Leucht- statt Handzeichen
Zurück im Klassenraum. Wörtliche Rede steht in Deutsch auf dem Programm. Was ist ein Begleitsatz? Was ist im Beispiel die wörtliche Rede? Wie nennt man Anführungszeichen noch? Anja Härterichs Fragen meistern die Viertklässler mit links. Viele Arme zeigen in die Luft. Und auch der Roboter blinkt oben am Kopf. Allerdings ist das Leuchtzeichen zu dezent, um im Klassenraum wirklich aufzufallen. Zum Glück passt Nikolas auf, der hinter dem Avatar sitzt: „PJ meldet sich“, ruft er. Und so kommt auch sie immer wieder dran. Einmal liest sie vor, ein anderes Mal erklärt sie, wo sich die Satzzeichen in einem Beispielsatz befinden. Das klappt schon mal gut.
Als Nächstes ist Stillarbeit mit dem Übungsheft dran. „PJ, alles klar?“, fragt Frau Härterich. „Alles klar“, kommt zurück. Die Lehrerin geht durch die Klasse, um bei Bedarf Hilfestellung zu geben. PJ scheint keine Hilfe zu brauchen. Sie meldet sich zumindest nicht. Minuten später wirft Anja Härterich die Lösungen an die Wand. Die Kinder korrigieren selbstständig ihre Fehler, als plötzlich ein Alarmzeichen ertönt. Drei schrille Töne hintereinander. Offenbar ist die Infusion im Olgäle durchgelaufen. „Was ist das? Das nervt“, entfährt es einem Jungen aus der Klasse. „Konzentration auf die Seite“, bittet die Lehrerin. Dann ist der Moment vorbei, in dem der Klinikalltag hörbar war.
Wie könnte sie Teil der Klassengemeinschaft bleiben?
Mit Schmerzen im Ellenbogen hatte es angefangen. PJ sei extrem schlapp gewesen, erzählt ihre Mutter, Susannah Michalik. Nur dazuliegen, das passte gar nicht zu ihrer Tochter. Der Kinderarzt überwies das Mädchen ins Olgahospital. Mitte Juni 2021 stellte man dort die Diagnose: akute Lymphatische Leukämie, kurz ALL. Damit war alles anders. Und PJ konnte nicht mehr in die Schule gehen. Sie erhielt zunächst Heimunterricht, vier Stunden die Woche zu Hause. Susannah Michalik wünschte sich jedoch etwas anderes für ihre Tochter. Sie sollte nicht das Gefühl haben, „raus zu sein, weil sie krank ist: Sie hat sich die Krankheit ja nicht ausgesucht“. PJ sei immer gerne zur Schule gegangen. Das Lernen fällt ihr leicht. Wie könnte sie Teil der Klassengemeinschaft bleiben?
Bei ihren Recherchen stieß die Stuttgarterin auf den AV1. Sie las und sah – durchweg positive – Berichte, in denen kranke Kinder aus anderen Bundesländern auf diese Art beschult wurden. Das wollte sie auch: „echte Teilhabe“ für ihre Tochter. Mehr Normalität und auch das: Abwechslung von der Einsamkeit. Die Tage zu Hause können lang werden.
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Doch an PJs damaliger Grundschule gab es Probleme. Die Klassenlehrerin wollte keinen Roboter in ihrem Klassenraum. Sie hatte Datenschutzbedenken. Die Belastungen der Pandemie kamen wohl noch hinzu. Das Ganze wurde zum Streitthema. Auch die Eltern aus der Klasse waren sich irgendwann nicht mehr einig – ebenfalls ein Ausschlusskriterium.
Die Freiwilligkeit ist für das Ministerium entscheidend
„Die Schule hat aus Sicht des Kultusministeriums die Situation korrekt eingeschätzt“, so ein Sprecher des Kultusministeriums, es gebe keine datenschutzrechtliche Freigabe des Geräts. Das galt im vergangenen Herbst – und das gelte noch heute. Auf freiwilliger Basis, wenn alle Beteiligten zustimmen, sei der Einsatz aber möglich und bedürfe keiner Zustimmung durch das eigene Haus, so die Auskunft. Die Freiwilligkeit ist für das Ministerium jedoch entscheidend, egal, um welches digitale Medium es geht.
Susannah Michalik findet weiterhin, der Einsatz digitaler Hilfsmittel sollte – gerade vor dem Hintergrund der Pandemie – nicht von der Freiwilligkeit einer Lehrkraft abhängen. Sie ist erleichtert, im Herbst den Schlussstrich gezogen und sich für den Schulwechsel entschieden zu haben. An der privaten Galileo-Schule hat es geklappt. Die Klett-Stiftung übernimmt die Finanzierung.
Das Ganze wird auch pädagogisch begleitet
„Wir sind sehr glücklich mit dem Avatar“, sagt PJs Mutter. Die neue Klassenlehrerin war „sofort dabei“. Sie habe PJ helfen wollen – zudem sei das Ganze „sehr spannend“ für sie, sagt Anja Härterich selbst. Dennoch wurde es Februar, bevor der Avatar endlich im Klassenzimmer stand. Das habe daran gelegen, dass sie lange auf die Datenschutzerklärung für den Einsatz hätten warten müssen, erklärt Petra Ferrari, die Leiterin des Bildungshauses. Sie habe beim Verschicken der Erklärung ein Schreiben an die Eltern beigefügt: „Ich habe erklärt, dass nichts aufgezeichnet wird, dass man da keine Angst haben muss.“ Der Unterricht wird gestreamt. Die „vielen positiven“ Rückmeldungen beglücken sie immer noch.
Das Ganze wird pädagogisch begleitet: Eine Kollegin, die selbst einmal an Leukämie erkrankt war, habe mit den Kindern über die Krankheit gesprochen, berichtet Petra Ferrari. Auch aus dem Olgahospital kam eine Fachkraft, um Fragen der Viertklässler zu beantworten.
Die Selbstlernphasen überwiegen aber weiterhin
Petra Ferrari findet, das Beispiel mit dem Roboter zeige, was Schule auch ausmache: „neue Dinge auszuprobieren, Wege zu finden“. Und nachzusteuern, wenn es nicht gleich rund läuft. So ist der Roboter anders als ursprünglich angedacht nur für einzelne Stunden in der Woche im Einsatz – flexibel abgestimmt auf PJs Therapieplan. Die Selbstlernphasen überwiegen weiterhin. Eine Avatar-Beschulung über ganze Vormittage hinweg sei gar nicht möglich, ist die Erfahrung der Bildungshausleiterin.
Das liegt nicht nur an den Erschwernissen von Krankheit und Therapie, wie ein zweiter Unterrichtsbesuch zeigt. Wir haben eine Stunde Englisch aus PJs Perspektive begleitet – per Videocall, um sie nicht zu gefährden. Englisch sei für sie schwieriger, hatte die Schülerin vorher schon gesagt. Nun wird klar, warum: Oft sprechen Kinder gleichzeitig. Beim Vokabeltraining kommt auf PJs Tablet teilweise nur ein Stimmengewirr an. Das erfordert viel Konzentration. Wer gerade spricht, ist schwer auszumachen. Auf dem Bildschirm sieht man die Tafel und die Lehrerin, aber keinen ihrer Mitschüler.
Den Kopf in die richtige Richtung zu drehen ist gar nicht so einfach
Warum schaut sie sich nicht um? Sie müsse das noch üben, erklärt PJ. Der Avatar reagiere zeitverzögert – und drehe sich deshalb oft zu weit. Bei kurzen Wortbeiträgen lohnt es sich nicht, den Kopf zu bewegen. Zumal es für sie schwer sein dürfte zu wissen, wohin sie den Avatar drehen soll. In ihrer alten Klasse hätte sie es da leichter gehabt. Da hätte sie ihrer Intuition folgen können, weil sie wusste, wer wo sitzt. Hier wird es noch Zeit brauchen, bis das klappt.
Dennoch macht sie erstaunlich gut mit. Sie bearbeitet die geforderten Aufgaben in ihrem Heft, meldet sich, um eine Märchenvokabel beizusteuern („dragon“) – und als ihre Lehrerin sie auf Englisch direkt fragt, ob sie weiß, was gerade zu tun ist, lässt sie den Roboter ein lachendes Gesicht machen. Aber eine Stunde Englisch ist dann auch genug für diesen Vormittag, zumal ihre Medikamente müde machen: „Ich will jetzt schlafen“, sagt sie danach – und legt sich erst mal aufs Sofa.
Für einige Kinder fühlte es sich anfangs auch seltsam an
Susannah Michalik glaubt, dass es einfacher gewesen wäre, wenn sie den Avatar früher gehabt hätten. Bald ein Jahr sei ihre Tochter isoliert. Die Abwechslung tue ihr aber gut: „Dieses ,Jetzt habe ich einen Termin, habe etwas zu tun‘.“ Anja Härterich findet, es laufe besser als gedacht. Sie sei stolz auf ihre Klasse, die sehr engagiert sei. Das kann man sogar sehen. Die Kinder haben PJs Platz mit Gebasteltem geschmückt, damit sie sich bei ihnen willkommen fühlt.
Doch was sagen die Kinder selbst? Fast alle melden sich auf die Frage. Die meisten sagen, das sie es „toll finden“, dass ihre Schule das mache. „Ich finde es toll, dass wir ein neues Kind in der Klasse haben. Und dass sie nicht so allein ist“, sagt Ruzanna, die neben PJ beziehungsweise dem Avatar sitzt. Julia gibt das Projekt Sicherheit. Sie könnte ja auch selbst krank werden, dann würde sie das auch wollen. Andere berichten, dass es sie anfangs verunsichert habe, wenn sie bemerkten, dass der Roboter in ihre Richtung guckt. „Es war komisch“, meint zum Beispiel Luisa. „Man hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.“ Aber jetzt sei es anders. „Jetzt ist sie eine ganz normale Klassenkameradin.“
Screenshots und Aufnahmen sind verboten
Datenschutz
Der AV1 ist laut Firma „DSGVO-konform“ – DSGVO steht für Datenschutz-Grundverordnung. Man speichere keine persönlichen Daten über die Person, welche den AV1 nutze. Generell könne sich immer nur eine Schülerin, ein Schüler mit dem AV1 verbinden. Der Unterricht wird per Livestream übertragen. Screenshots und Aufnahmen seien verboten. „Für die Lehrkraft und die Klasse ist während des Unterrichts deutlich erkennbar, wenn der AV1 online ist“, heißt es auf der Homepage. Für das Kultusministerium Baden-Württemberg liegt „die Problematik (. . .) darin, dass mit Amazon-Webservices und Google-Analystics durch den Avatar Dienste genutzt werden, die nach DSGVO Probleme aufweisen können“.
Firma
No Isolation wurde 2015 in Norwegen gegründet. Das Firmenziel nach eigenen Angaben: „Einsamkeit und soziale Isolation in unserer Gesellschaft durch den Einsatz warmer Technologien zu verringern“.