In der Maya-Stadt Chichén Itzá haben Archäologen zahlreiche Hinweise auf Menschenopfer gefunden. Darunter sind auch die Gebeine von rund 100 getöteten Kindern. Mithilfe von DNA-Analysen haben Forscher jetzt herausgefunden, dass die meisten von ihnen männlich und zum Teil eng miteinander verwandt waren.
Die Götter der präkolumbianischen Völker Mittelamerikas waren durstig: Sie dürsteten nach Menschenblut. Tausende Menschen wurden von den Priestern der Azteken im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert jedes Jahr auf den Altären geopfert. Doch auch bei den Mayas, die einige Jahrhunderte zuvor in Mittelamerika mächtige Stadtstaaten geschaffen hatten, wurden Menschen den Göttern dargebracht.
Maya opferten mit Vorliebe Brüderpaare
Bei ihren rituellen Opferungen töteten die Maya auch Kinder – mit Vorliebe Brüderpaare. Das enthüllen Überreste von 64 männlichen Heranwachsenden, die in der Maya-Stadt Chichén Itzá geopfert und anschließend in einer unterirdischen Zisterne beigesetzt wurden.
Unter den Toten waren mehrere eng verwandte Paare – wahrscheinlich Brüder – sowie zwei eineiige Zwillingspaare, wie das Team um Rodrigo Barquera vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) im Fachmagazin „Nature“ berichtet. Die familiären Bande zwischen den Geopferten weisen auf eine Verbindung zum Schöpfungsmythos der Maya über die göttlichen „Helden-Zwillinge“ hin.
Blutige Zeremonien in Chichén Itzá
Ob Inkas, Maya oder Azteken: Kinder und Jugendliche wurden auffallend häufig rituell hingeschlachtet. Die Inkas setzten diese Opfer auf Berggipfeln aus. Die Azteken brachten sie zu Ehren des Regengottes Tlaloc zum Weinen und durchbohrten sie dann. Die Chimu in Peru rissen Kindern das Herz heraus.
Funde in der legendären Tempelstadt Chichén Itzá bestätigen, dass auch die Maya dort blutige Zeremonien abhielten. Der große Tempel des Kukulkan, dem Gott der Auferstehung und der Reinkarnation geweiht, war über einen Kalksteinweg mit einer heiligen Cenote verbunden – einem natürlichen, wassergefüllten Sinkloch im Karstuntergrund. Am Grund dieser Doline haben Archäologen die Gebeine von mehr als 200 Menschenopfern, vorwiegend Kindern, gefunden.
Zur Info: Chichén Itzá ist eine der bedeutendsten Ruinenstätten auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán. Sie liegt etwa 120 Kilometer östlich der Stadt Mérida im Bundesstaat Yucatán. Ihre Ruinen stammen aus der späten Maya-Zeit (600 bis 900 n. Chr.). Mit einer Fläche von 1547 Hektar ist Chichén Itzá einer der ausgedehntesten Fundorte in Yucatán.
Wozu dienten die Kinderopfer?
Im Jahr 1967 wurde bei einer Cenote in Chichén Itzá ein Chultún – eine unterirdische Zisterne – mit angrenzender Höhle entdeckt, in dem Überreste von rund 100 Kinderopfern lagen. Das Chultún wurde mehr als 500 Jahre lang genutzt, vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, vor allem während der politischen Blütezeit von Chichén Itzá zwischen 800 und 1000.
„Solche unterirdischen Strukturen galten als Zugänge zur Maya-Unterwelt und standen in Zusammenhang mit Wasser, Regen und Kinderopfern“, erklärt Rodrigo Barquera. Rolle und Kontext der Opferungen seien bisher ein Rätsel gewesen, heißt es in der Studie. Mit den Ritualen sollten möglicherweise höhere Ernteerträge und Niederschlagsmengen von den Göttern erbeten werden..
DNA von 64 getöteten Kindern untersucht
Die Forscher haben nun die Überreste von 64 dieser kindlichen Blutopfer aus dem Chultún von Chichén Itzá genauer untersucht. Alle Heranwachsende waren demnach männlich. In elf Fällen waren je zwei der Jungen eng verwandt. Aus Ernährungsmustern lässt sich den Experten zufolge ableiten, dass sie wahrscheinlich in demselben Familiennetzwerk, vielleicht sogar im gleichen Haushalt aufwuchsen.
„In Berichten aus dem frühen 20. Jahrhundert wurden reißerische Geschichten über die Opferung junger Frauen und Mädchen an dieser Stätte verbreitet, die nicht den Tatsachen entsprechen“, berichtet Koautorin Christina Warinner von der Harvard University in den USA. „Unsere Studie, die in enger internationaler Zusammenarbeit durchgeführt wurde, stellt diese Interpretation auf den Kopf.“
Opfer wurden wegen biologischer Verwandtschaft ausgewählt
„Überraschenderweise haben wir auch zwei eineiige Zwillingspaare identifiziert“, erzählt Co-Autorin Kathrin Nägele. Die Ergebnisse legten nahe, „dass die geopferten Kinder speziell wegen dieser biologischen Verwandtschaft ausgewählt wurden“. Die Maya bevorzugten für ihre Opferrituale demnach vor allem Zwillinge und Brüderpaare.
Diese Vorliebe hänge eng mit den religiösen Vorstellungen und Schöpfungsmythen der Maya zusammen, wie die Wissenschaftler schreiben. So spielen im Popol Vuh, dem heiligen „Buch des Rates“ der Quiché-Maya, Zwillinge und Zwillingsopfer eine zentrale Rolle.
Helden-Zwillinge im Schöpfungsmythos der Maya
Dieser Erzählung zufolge stiegen die Zwillinge Hun Hunahpú und Vucub Hunahpú in die Unterwelt hinab und wurden nach der Niederlage beim rituellen Ballspiel von den Unterweltgöttern geopfert. Aus dem Kopf und Samen eines dieser geopferten Zwillinge gingt danach ein weiteres Zwillingspaar hervor.
„Diese Zwillinge, als Helden-Zwillinge bekannt, rächten ihren Vater und Onkel und durchliefen dabei wiederholte Zyklen von Opferung und Wiederauferstehung, um die Unterweltgötter auszutricksen“, erläutern die Forscher. „Die Opfer von Zwillingen und eng verwandten Jungen könnten auf Rituale hindeuten, in denen die Helden-Zwillinge eine Rolle spielen.“