Jón Gnarr wusste schon immer, dass er irgendwie anders ist. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Jón Gnarr hat keinen Schulabschluss. Die Reykjavíker wählten ihn trotzdem zum Bürgermeister. Heute erzählt der Isländer, wie aus ihm, einem schwer erziehbaren Jugendlichen, ein erfolgreicher Comedian, Politiker und Schriftsteller wurde.

Köln - Er fühlte sich missverstanden und verstand sich oft selbst nicht. Jón Gnarr (50) hatte keine schöne Kindheit und eine schwierige Jugend. Seine Eltern schickten ihn zwei lange Winter in ein Erziehungsheim im Westen Islands. Dass er irgendwann irgendeinen Job finden würde, daran glaubte nicht einmal er selbst. Gnarr wurde weltweit bekannt, als die Reykjavíker ihn zum Bürgermeister wählten. Das war er von 2010 bis 2014. Seine „Beste Partei” forderte einen Eisbären für den Zoo, Gnarr erklärte, nur mit jemandem zu koalieren, der alle Staffeln der US-Serie „The Wire“ kennt. Gnarr war zwar ein Comedian, meinte es dann aber doch ernst mit der Politik. Auch wenn er, der Außenseiter, selbst nicht genau wusste, wie er dorthin kam.

Als fast schon erwachsener Teenager hatte Gnarr einen epileptischen Anfall, der ihn im Krankenhaus aufwachen ließ, „Ich vergleiche Menschen oft mit Computern. Das war, als hätte man mir einen Neustart verpasst“, erzählt Jón Gnarr, der für die Buchvorstellung von „Der Outlaw“ (erschienen bei Tropen/ Klett Cotta) nach Köln gereist kam. „Ab diesem Moment wollte ich der beste Mensch sein, der ich sein könnte. Die Furcht sollte nicht mein Leben regieren“, erzählt Gnarr. In seinem Buch beschreibt er seine schwierige Jugend, wie er sich als Punk verstand, obwohl er die Musik eigentlich nicht mochte, überall aneckte, versuchte sich umzubringen, in Sommerhäuser einbrach, ohne etwas zu klauen.

„Ich gehöre nirgends hin“, sagt Gnarr

Jón Gnarr, ein stattlicher Kerl mit rotblonden Haaren, Tweedjackett und Tätowierungen an den Unterarmen kommt direkt aus Houston, Texas, wo er derzeit an der Rice Universität kreatives Schreiben unterrichtet. Er, der nicht einmal einen anständigen Schulabschluss hat. Gnarr denkt lange nach, bevor er antwortet, häufig sagt er „jau“, mit diesem typischen isländischen Singsang. Er sei schon immer der Außenseiter gewesen: „Ich gehöre nirgends hin. Ich gehörte nicht in meine Familie, nicht in meine Schule. Und auch als Erwachsener geht es mir noch so. Ich wurde Schauspieler, habe das aber nicht studiert. Dann wurde ich Politiker, war das ja aber auch nicht richtig. Jetzt schreibe ich Bücher, sehe mich aber nicht als Schriftsteller. Ich unterrichte an der Universität, obwohl ich selbst nie eine besucht habe. Nur bei Crass fühlte ich mich wohl.“

Crass war eine englische Punkband, ihre Platten waren die einzigen persönlichen Gegenstände, die Gnarr im Erziehungsheim dabei hatte, heute ziert das Band-Logo seinen Unterarm. Auf dem anderen: das Stadtwappen von Reykjavík. „Ich mochte die Musik eigentlich nicht. Meine Faszination waren die Texte, die Philosophie und Botschaft der Band. Ich fand in den Texten meine Werte. Was ist wichtig, was soll ich tun und was nicht. Und es war ein guter Weg, englisch zu lernen“, erzählt Gnarr. Auf einmal gehörte er wohin und das mitten in der schwierigen Zeit der Pubertät.

„Die Teenagerjahre sind die schwierigste Zeit im Leben.“

„Das ist die drastischste Wandlung im Leben. Das wird sehr unterschätzt. Viele Erwachsene sagen, dass die Teenagerjahre die schwierigste Zeit in ihrem Leben war“, sagt Gnarr. Bei seinen Kindern sei es nicht so schlimm gewesen: „Ich war ein besserer Vater als mein Vater.“

Fünf Kinder hat er, geboren von 1985 bis 2005, nicht alle mit seiner jetzigen Frau. Damit liegt er noch über der Geburtenrate von Island, das aber mit 2,04 Kindern pro Frau an der Spitze Europas steht. „Wir brauchten mehr Menschen, vor allem auf dem Land“, erklärt Gnarr, warum vor allem nach der Finanzkrise so viele Babys geboren wurden. Und: „Wir sind nicht so strukturiert. Wir wissen nicht, wo wir nächsten Sommer Urlaub machen. In Island plant man seinen Urlaub nach dem Wetter. Und das kann man nicht voraus sagen. Alles ist spontaner.“ Und oft auch moderner: Mütter gehen nach der Geburt früher zurück zur Arbeit, Väter nehmen mehr Elternzeit.

„Island ist die Tomate im Salat”

Gnarr kennt immer auch ein „aber“, wenn es um positive Beispiele geht. „Island ist wie die Tomate im Salat. Island ist geografisch kein Teil von Skandinavien, aber es ist es kulturell. Island hat drei Identitäten, seine eigene, eine europäische, aber auch eine nordamerikanische. Die Tomate ist eigentlich eine Frucht, aber wir denken, sie sei Gemüse, weil sie im Salat vorkommt. Island ist ganz anders als Europa. Die Kultur ist sehr progressiv, aber auch konservativ“, sagt Gnarr.

Es ist nicht nur das Wetter, sondern auch die Langeweile, die Gnarr antrieb. „Alles Interessante fand irgendwo anders statt, aber nicht auf Island. Deshalb las ich auch so viele Bücher“, sagt Gnarr. Zwei, drei Mal die Woche ging er in die Bücherei, um als Kind schon John Steinbeck und George Orwell zu lesen. Heute liest er immer noch überall. „Manchmal folge ich Amazon-Empfehlungen und stelle mir vor, dass da eine alte Frau sitzt, die mir das sagt“, sagt der 50-Jährige.

Gnarr hat Charisma, er wirkt glaubwürdig. Als Bürgermeister war er Vorbild und Inspiration für viele Menschen. „Ich wollte zeigen, dass man teilhaben kann. Politik muss nicht langweilig sein.“ Er war aber nicht vorbereitet, auf das, was ihn erwartete. Es war nach der Finanzkrise, die Island so gebeutelt hatte. Die Energiefirma Reykjavíks war bankrott, die Schulden waren immens, die Einkommen niedrig. Die Stadt ist der Hauptarbeitgeber und rettete mit einem strittigen Finanzplan, bei dem einige ihre Arbeitsplätze verloren, die Firma.

Isländer sind die glücklichsten und gesündesten Menschen

Laut OECD-Index, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ist Island eine der glücklichsten und gesündesten Nationen. Gnarr kennt auch hier ein „aber“: „Aber zur selben Zeit halten wir den Weltrekord bei Antidepressiva“, sagt er. Island sei einfach ein Land der Extreme.

Glücklich sein sei ein wichtiger Teil der isländischen Mentalität. „Wir sind so weit weg, das Wetter ist furchtbar. Aber man darf sich nicht beschweren. Wer sich übers Wetter beschwert, dem wird gesagt, dass er sich nur besser anziehen muss.“ Es gibt einen Satz in Island, den jeder sagt: „Es wird schon werden.“ Gnarrs Umfragewerte waren so gut, dass er wahrscheinlich auch Islands Präsident hätte werden können. Er wollte nicht. „Meine Frau war mit mir Bürgermeister, auch wenn das nicht honoriert wurde“, sagt Gnarr. Er habe vermisst, kreativ zu sein. Er will noch mehr Bücher schreiben und hat in einer Serie die Hauptrolle übernommen. Er spielt darin den Bürgermeister von Reykjavík.