Glamourös, sexy und funkelnd: Szene aus der Wintershow „Grand Revue“, die am Freitagabend im Friedrichsbau Variete Premiere gefeiert hat. Foto: Alex Klein

Extravaganz bezeichnet alles, was aus dem Rahmen fällt. Zur Premiere der „Grand Revue“ am Freitag hat der Friedrichsbau als Losung ausgegeben: „Stuttgart atmet Extravaganz“. Unser Kolumnist fragt: Ist schwäbische Bescheidenheit überholt?

Stuttgart - Mitten in Stuttgart leuchten riesige Buchstaben mit pinkfarbener Kraft: „Ekstase“. Die hochgelobte Ausstellung des Kunstmuseums feiert den Ausbruch aus der Tristesse und der Norm. An zentraler City-Lage zeigt die Signalschrift der Glasfassade weithin sichtbar an, dass sich die Stadt ihrem biederen Image widersetzt und auch mal die Kontrolle verliert. Im Kessel darf sich die Kunst rauschhaften Hochgefühlen ergeben – und an den höher gelegenen Rändern der Stadt geht es grad so bunt und aussschweifend weiter. Im neuen Winterprogramm „Grand Revue“ feiert das Friedrichsbau-Varieté mit Showgirls und funkelnden Pailletten heißblütig die Extravaganz und den Glamour.

Als „elegant, sexy und pulsierend“ beschreibt Theaterleiter Timo Steinhauer die Show, die, wie er findet, sehr gut zu einer immer weiter auftrumpfenden Stadt passt. In diesen Tagen pulsiert Stuttgart fürwahr. Der rote Teppich wird zur Auslegware von Stuttgart. Premieren am Donnerstagabend im Palazzo mit Spitzenkoch Harald Wohlfahrt und gleichzeitig auf den Musicalhöhen mit „Anastasia“, am Freitagabend Landespresseball mit Boney M. in der Liederhalle und gleichzeitig drei Premieren: Glitzerglanz auf dem Pragsattel im Friedrichsbau, Schwäbisches in der Komödie im Marquardt („Tratsch im Treppenhaus“ mit Publikumsliebling Monika Hirschle) sowie Brecht im Theater der Altstadt im Westen („Mutter Courage und ihre Kinder“ zum 60. Geburtstag des Theaters).

Schwäbische Zurückhaltung ist auf Dauer öde

Wenn wir uns mal nicht mehr wundern, dass in Stuttgart so viel los ist, sind wir kein Dorf mehr, sondern doch schon ein echtes Weltstädtle. Understatement ist gut, weil wahre Größe keine Angeberei braucht – aber schwäbische Zurückhaltung ist auf Dauer auch ziemlich öde.

Das Wort Extravaganz, findet Sebastian Weingarten, der Intendant des Renitenztheaters, passt zu Stuttgart allein schon wegen der Topografie. Aber nicht nur „die Kessellage mit den außergewöhnlichen Ausblicken“ sei hier einmalig, sondern ebenso die „kulturelle Vielfalt“. Sein Wunsch: „Wir sollten nicht ständig versuchen, unsere Stadt zu erklären, sondern sie selbstverständlich genießen mit all ihren individuellen Extravaganzen.“

Ähnlich sieht es Christina Lucia Semrau, die Botschafterin des Kinderhospizes, die wie Weingarten die Premiere der „Grand Revue“ im Friedrichsbau besuchte. Die Wahl-Stuttgarterin, die vor 20 Jahren aus Frankfurt kam, plädiert dafür, „die schwäbische Bescheidenheit in puncto Kunst und Kultur endlich mal abzulegen“. Bei fünf Premieren und Presseball an zwei Tagen sollten sich „die Intendanten künftig aber besser absprechen“, findet sie. „Die Lust am Chic und an der Eleganz vergangener Zeit“ gefällt ihr gut und auch, „dass es in dieser Stadt kein Entweder-oder von einzelnen Stilrichtungen gibt“, sondern dass die Freiheit bestehe, „alles auszuleben“.

Die Vorverkaufszahlen sind „fantastisch“

Modedesigner Tobias Siewert versucht, seinem Alltag „immer ein Stück Extravaganz“ zu geben. Extravaganz sei relativ, sagt er. Was für die einen gewagt sei, sei für andere eher langweilig. Mascha Hülsewig von der Erotik-Boutique Frau Blum findet es gut, wenn sich Menschen aus der Reserve locken lassen, sich außergewöhnlich kleiden und fernab vom Alltag in eine andere Rolle schlüpfen. Ihr alter Arbeitsplatz, der Friedrichsbau, erstrahlt nun „kreativ und bohémien“, was sie begrüßt. Außerdem bei der Premiere der „Grand Revue“ gesehen: Unternehmer Hans Peter Stihl, Opernsängerin Helene Schneiderman, Filmproduzent Robin K. Bieber, Moderator Jens Zimmermann, die Bloggerin Emma von Bergenspitz und viele andere.

Friedrichsbau-Chef Timo Steinhauer ist im Glück. Mit der erotische Revue habe man „einen Nerv getroffen“, jubelt er: „Die Vorverkaufszahlen sind fantastisch und übertrumpfen die der letzten Jahre.“

Extravaganz steht unserer Stadt gut.