Die Heslacher WG „Revier 5“ hat kaum Geld, will aber das Haus kaufen, in dem sie wohnt. In der Bildergalerie führen wir durch die Immobilie in der Böheimstraße.Foto:Lichtgut / Rettig Foto:  

Eine Heslacher WG will das Haus kaufen, in dem sie derzeit wohnt – obwohl sie kaum Geld hat und die Mieten niedrig halten will. Warum stehen die Chancen trotzdem gut?

Stuttgart - Sie könne sich nicht vorstellen, ein Haus zu kaufen, „also so für mich, mit meinem Geld“, sagt Jule. Und doch sitzt die 28-jährige Sozialarbeiterin gerade bei Spezi und Schnittchen in der Küche jener Immobilie in Stuttgart-Heslach, die sie gemeinsam mit ihren neun Mitbewohnern erwerben will. Das wird sie ebenso erklären müssen wie das Finanzierungsmodell, mit dem die WG das von ihr sogenannte Revier 5 dem heißgelaufenen Stuttgarter Immobilienmarkt entreißen will.

Das Gebäude in der Böheimstraße 59 war ursprünglich ein Pfarrhaus, dann ein Polizeirevier, schließlich ein Frauenwohnheim. Vor neun Jahren zog eine WG ein, einige der ursprünglichen Bewohner leben bis heute hier. Es sei damals nicht schwer gewesen, als WG das Haus zu mieten, erinnert sich Sebastian. Der denkmalgeschützte Historismusbau von 1904 ist mit zehn separaten Zimmern und einem Bad je Stockwerk zwar perfekt für gemeinschaftliches Wohnen geeignet, ansonsten aber schwer zu vermitteln.

Das hat irgendwann auch der Eigentümer gemerkt. Den bekam die WG noch nie zu sehen, dafür aber den einen oder anderen Kaufinteressenten und den Hausverwalter. Der hat zwar das Nachbargebäude abgerissen und durch eine – laut Website – „ideale Kapitalanlage“ mit „hoher Mietrendite“ ersetzt. Das Revier 5 steht aber immer noch und wird für 3000 Euro kalt an die WG vermietet. Das macht zehn Euro pro Quadratmeter – in einem alten Haus inmitten stark befahrener Straßen. Aber geteilt durch zehn kann man sich so ein Haus selbst dann leisten, wenn man wie die 25 bis 36 Jahre alten Bewohner studiert oder soziale oder künstlerische Berufe ausübt.

Hauskauf ohne eigenes Geld

So soll es bleiben, deshalb wollen die Bewohner das Haus nun kaufen – ohne jedoch unter die Eigentümer zu gehen oder auch nur ansatzweise das nötige Kleingeld parat zu haben. Um an die für Kauf und Renovierung nötige Dreiviertelmillion zu kommen, tun sie sich mit dem sogenannten Mietshäuser-Syndikat zusammen, ein Ende der achtziger Jahre in Freiburg gegründeter Unternehmensverbund.

Das funktioniert so: Für jedes Haus wird eine eigene GmbH gegründet. Sie hat zwei Gesellschafter, den aus den Bewohnern bestehenden Hausverein und das Syndikat. Dieser GmbH, nicht den Bewohnern selbst, gehört später das Haus, und sie sammelt Eigenkapital für den Kauf. Der Rest des Geldes kommt per Darlehen von der laut Selbstbeschreibung auf „sozial-ökologische Geldanlagen“ spezialisierten GLS Bank. Die Kredite werden mit den Mieteinnahmen abbezahlt. Eine Satzung schreibt zudem günstige Mieten und Solidarzahlungen an andere Projekte im Syndikat fest.

125 bereits gekaufte Häuser zählt das Syndikat auf seiner Website auf, 34 davon stehen in Baden-Württemberg: etliche im Raum Freiburg, einige in Tübingen und Mannheim sowie das Linke Zentrum Lilo Hermann in Stuttgart-Heslach – nur einen Katzensprung vom Revier 5 entfernt. Die Rückzahlung der Kredite laufe „in sehr hohem Maße sehr gut“, sagt der Sprecher der GLS Bank, Christof Lützel. Für weitere ernsthafte Anliegen sei man „sehr offen“.

Eine Viertelmillion braucht die WG

Den Bewohnern des Reviers 5 ist der Hauskauf ein ernsthaftes Anliegen. Der Eigentümer werde das Gebäude „früher oder später veräußern“, hat ihnen der Hausverwalter mitgeteilt – allerdings frühestens 2019, aus steuerlichen Gründen. Bis dahin sind es noch anderthalb Jahre – genügend Zeit also, um die für die Finanzierung benötigte Viertelmillion an Eigenkapital zu sammeln.

Weil die Bewohner selbst so gut wie nichts auf der hohen Kante haben, bitten sie Familienangehörige, Freunde und Sympathisanten um kleinere oder größere Beträge. Ab 500 Euro kann man einsteigen, zu Zinsen zwischen null und 1,5 Prozent – mit einem Nachrangdarlehen, das im Falle einer Pleite als letztes bedient wird. Solche Darlehen sind weniger eine Geldanlage als vielmehr ein Zeichen guten Willens.

Das alte Gebäude in der Böheimstraße ist zwar schön anzuschauen, aber eben auch renovierungsbedürftig und mitten im Stadtgetümmel. „Klar wäre uns ein Haus mit großem Garten lieber. Aber über die Jahre ist die Erkenntnis gereift, dass es in Stuttgart unmöglich ist, günstig an ein Traumhaus zu kommen“, sagt der WG-Mitgründer Sebastian.

Wohnen ist ein hochpolitisches Thema

Diese Einsicht hat er in Stuttgart nicht exklusiv. Während die WG am Küchentisch über ihre Pläne spricht, findet vor dem Rathaus mal wieder eine Demo statt – gegen „Mietwahnsinn“ und den „Ausverkauf der Stadt“. In früheren, protestlustigeren Zeiten hätte man, außer markige Sprüche zu klopfen und leer stehende Gebäude in einen „Leerstandsmelder“ im Internet einzutragen, vielleicht auch mal ein paar Häuser besetzt. Doch diese Tage sind schon lange vorbei, auch und gerade in Stuttgart. Im Revier 5 sehen sie das genauso. Heute gilt: Besitzen ist das neue Besetzen.

Zwar sahen sich die ersten Projekte im Mietshäuser-Syndikat Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre „noch ganz klar in der Hausbesetzertradition“. So sagt es Jan Bleckert, der im Auftrag des Syndikats die Bewohner des Reviers 5 beim Hauskauf unterstützt. Von dieser gegen den Markt gerichteten Kampfeslust ist heute zumindest die Begrifflichkeit geblieben: Das Syndikat kauft keine Häuser, es „entprivatisiert“ sie.

Weitere Projekte in Stuttgart

In Stuttgart ist das Syndikat neben dem Revier 5 an zwei weiteren Immobilien dran: Eines steht in Botnang, das andere in der Böblinger Straße 208 in Heslach. Der Verein Leuchtturmprojekt für faires Wohnen in Stuttgart hingegen scheiterte diesen Winter beim Kauf des Offizierskasinos am Römerkastell, gewann neben 11 000 Online-Unterstützern aber immerhin den Baubürgermeister Peter Pätzold als ideellen Förderer und sucht zurzeit nach einer Alternative zur ursprünglichen Wunschimmobilie.

Alle genannten Gebäude bestechen nicht gerade durch ihre Traumlage und sind renovierungsbedürftig. Kann man den Wohnungsmarkt wirklich umkrempeln, indem man solche Bruchbuden kauft? „Der Stuttgarter Immobilienmarkt ist ein Extrembeispiel“, sagt Bleckert, „und natürlich suchen Menschen, die niedrige Mieten garantieren wollen, nicht in der Halbhöhe.“

Marx hätte seine Freude

Andererseits sei jedes dritte Syndikatsprojekt ein Neubau, in Freiburg etwa entstehen aktuell 50 Wohnungen. Auf 100 Millionen Euro schätzt Bleckert den Wert der Immobilien, an denen das Syndikat beteiligt ist. Verwaltet werden sie, von einem Minijob in der Buchhaltung abgesehen, rein ehrenamtlich. Linke Ideen mit kapitalistischen Mitteln durchsetzen: Marx hätte seine Freude an dieser Dialektik.

Auch die Bewohner des Reviers 5 wissen, dass ihr Projekt scheinbar Gegensätzliches vereint. Langfristig bezahlbaren Wohnraum zu schaffen stehe aber ja wohl nicht in einem Widerspruch zu einem, Anführungszeichen, linken politischen Selbstverständnis, finden sie. Auf dem Weg zu den eigenen vier Wänden, in denen man solidarisch zusammenwohnen und offen sein kann für alle Lebensstile, müsse man eben Kompromisse eingehen, sagt Jule: zum Beispiel ein Haus kaufen, obwohl man das eigentlich gar nicht mag.