Reutlingen macht sich architektonisch auf den Weg in die Zukunft: das „Stuttgarter Tor“. Foto: Schöller

Gleich hinterm Bahnhof will Reutlingen in den Himmel wachsen: das künftig höchste moderne Gebäude in der Stadt wird 18 Geschosse haben und reicht mit seinen 64 Metern fast an die gotische Marienkirche heran.

Reutlingen - Seit Jahrhunderten überragt der 71 Meter hohe Westturm der Reutlinger Marienkirche mit seinem goldenen Engel die Altstadt. Jetzt bekommt das gotische Bauwerk Konkurrenz. Gleich hinter dem Bahnhof soll die Stadt in die Höhe wachsen: Das Bauprojekt „Stuttgarter Tor“ mit seinen 18 Stockwerken und 64 Metern wird einen neuen Rekord aufstellen – als höchstes modernes Gebäude der Stadt am Fuße der Alb.

„Es ist sehr mutig, so einen Hochpunkt zu setzen“, sagt Joachim Daller, der Stuttgarter Architekt des Projekts, und gibt zu, dass es ihn überrascht habe, dass die 115 000-Einwohner-Stadt so weit nach oben strebe. Im Laufe des Wettbewerbs sei immer noch ein bisschen mehr draufgekommen, ein Geschoss ums andere sei ergänzt worden. Nun müssten nur noch der Reutlinger Bauausschuss und der Gemeinderat den finalen Beschluss fassen. Dann könne noch in diesem Jahr mit den Arbeiten begonnen werden. Im Erdgeschoss des Gebäudes ist Gastronomie mit einem Außenbereich geplant, darüber werden Praxen und Büros einziehen, und in den oberen Etagen will der Investor Wohnungen mit Blick auf die Schwäbische Alb anbieten.

Auftakt zu einem neuen Stadtquartier

Mit dem „Stuttgarter Tor“ hat die Brachflächentristesse an der Ecke Burkhardt-Weber-Straße/Unter den Linden bald ein Ende. Wo jetzt Schotter und ein Bauzaun wenig Charme versprühen, wird das markante Wohn- und Geschäftshaus, das eine Gesamtfläche von 7000 Quadratmetern aufweist, die Stadt nicht nur optisch aufmischen. Das Hochhaus ist der Auftakt zu einem neuen Stadtquartier, der City Nord, einem rund 30 Hektar großen Areal, auf dem vor allem dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden soll.

Was früher der industriell geprägte Hinterhof der Stadt gewesen sei, werde nach und nach aufgewertet, sagt Reutlingens Oberbürgermeisterin Barbara Bosch und freut sich auf die besondere Landmarke. Es entstünden etliche „neue Fingerzeige an den Kanten der Stadt“, die den Großstadtcharakter betonten. Außer dem „Stuttgarter Tor“ soll ein seit Langem geplantes, aber bis jetzt immer wieder gescheitertes Hotelprojekt neben der Stadthalle realisiert werden. Auch am westlichen Eingang zur Reutlinger Innenstadt wird gebaut, und zwar ein 14-geschossiges Hochhaus. Dort hat der Stuttgarter Investor Blue Estate ein rund 5000 Quadratmeter großes Gelände beim Reutlinger Westbahnhof gekauft, inklusive dem sogenannten Hamburg-Mannheimer-Haus. Letzteres ist ein in die Jahre gekommenes Bürogebäude, das grundlegend saniert und um einen Hochhausnachbarn an der Ecke Eberhard- und Konrad-Adenauerstraße ergänzt wird.

Ein urbanes Gesicht für Reutlingen

Die Verdichtung im Inneren der Stadt mit Gewerbe- und Wohnflächen sei notwendig, weil Reutlingen im Vergleich zu anderen baden-württembergischen Kommunen überdurchschnittlich wachse und einen hohen Bedarf habe, betont Barbara Bosch. Jährlich kämen 800 weitere Einwohner dazu, die Tausende von Flüchtlingen noch gar nicht mitgerechnet. Von einer städtebaulichen Erweiterung auf der grünen Wiese hält Bosch nichts, sie lehnt den Flächenfraß ab. „Weil der Platz begrenzt ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als in die Höhe zu wachsen“, sagt die Oberbürgermeisterin und sieht die neuen Hochhäuser als konsequente stadtplanerische Weiterentwicklung. „Die Stadt bekommt ein urbanes Gesicht, das gut zu ihr passt und das sie als Oberzentrum auch braucht.“

Hochwertig, aber auf jeden Fall bezahlbar würden die Wohnungen des „Stuttgarter Tores“ sein, kündigt Andreas Dominguez vom Projektentwickler Schöller und Partner an. Das luxuriöse Stuttgarter Hochhaus Cloud No. 7 mit Quadratmeterpreisen von im Schnitt 12 000 Euro sei nicht das Vorbild, allerdings gebe es durchaus etliche solvente Unternehmer in Reutlingen und der Umgebung, die als Käufer infrage kämen, sagt der Marketingleiter. „Wir wollen etwas schaffen, das in Reutlingen einzigartig ist.“ Er rechnet mit einer Bauzeit von etwa zwei Jahren.

Der Pfarrer der Marienkirche, Sven Gallas, blickt gelassen in die architektonische Zukunft. „Reutlingen ist kein Dorf mit der Kirche als wichtigstem Punkt in der Mitte“, sagt er. Es sei auf jeden Fall genug Platz da für große Bauten, auf der anderen Seite der Bahnlinie allemal, also in gehörigem Abstand zu seiner Kirche. „In der Altstadt wäre so ein Mordsklotz sicherlich nicht genehmigt worden.“