Ernst und müde: Selbstporträt von Alice Haarburger, entstanden um 1940 Foto: Spendhaus Reutlingen

Sie war durch und durch Stuttgarterin und hat ihre Stadt auch immer wieder gemalt. Jetzt erinnert das Spendhaus Reutlingen an die jüdische Künstlerin Alice Haaerburger, die 1942 bei Riga ermordet wurde.

Reutlingen - Man kann es sich kaum noch vorstellen: das autofreie Stuttgart. In den Straßen keine parkenden Wagen – und jenseits der Innenstadt auch nur vereinzelte Passanten. Wenn Alice Haarburger auf der Suche nach Motiven durch die Stadt lief, wirkten viele Gegenden noch ländlich und sehr beschaulich. Betrachtet man heute die Gemälde von Alice Haarburger, erfährt man auch viel über das Stuttgart der Zwanziger und Dreißigerjahre, jener Zeit, als zum Beispiel der Hasenbergturm noch unversehrt und ein beliebtes Ausflugsziel war.

Alice Haarburger war durch und durch Stuttgarterin, obwohl sie eigentlich aus Reutlingen stammte. In diesem Jahr wäre die Malerin 125 Jahre alt geworden, deshalb widmet das Städtische Kunstmuseum Spendhaus in Reutlingen ihr die kleine Ausstellung „Après tout – das eigene Gefühl“. Joana Pape, derzeit Volontärin am Spendhaus, hat sich auf Spurensuche begeben und auch Gemälde aufgespürt, von deren Existenz bisher nichts bekannt war. Das Werk Haarburgers schätzt Pape auf 150 Gemälde, mehr als sechzig davon sind nun in Reutlingen zu sehen und erinnern an eine Künstlerin, deren Karriere abrupt endete: 1941 wurde sie nach Riga deportiert und mit 51 Jahren bei einer Massenerschießung ermordet.

Haarburgers Werk wird er in den achtziger Jahren wiederentdeckt

Nach ihrem Tod geriet auch Haarburgers Werk in Vergessenheit – bis Wolfgang Kermer, der damalige Rektor der Stuttgarter Kunstakademie 1987 auf ihre Gemälde stieß. Es folgten Ausstellungenzu ihrem Werk, seither gibt es in Hoffeld die Alice-Haarburger-Staffel und seit vier Jahren auch einen Stolperstein in der Sandbergerstraße, der an ihr Schicksal erinnert.

Alice Haarburger war bekannt in der Stuttgarter Kunstszene. Als Kind zieht sie mit ihrer Familie, wohlhabenden Unternehmern, nach Stuttgart. Nachdem sie zunächst eine private Malschule für Damen besucht, gehört sie zur ersten Generation Frauen, die an der Stuttgarter Kunstakademie studieren dürfen. Von 1917 an geht sie die Klasse von Arnold Waldschmidt, der im Zweiten Weltkrieg SS-Kommandant im KZ Ravensbrück werden wird.

Gemeinsam mit der Mutter wohnt Alice Haarburger in der Danneckerstraße und führt ein durchaus großbürgerliches Leben, das sie nicht nur mit ihren Firmenanteilen finanziert, sondern auch mit dem Verkauf ihrer Werke. Man kennt und schätzt sie – auch durch ihr Engagement in verschiedenen Künstlerinnen- und Künstler-Vereinigungen. Eine radikal moderne Künstlerin ist Alice Haarburger nicht. Trotzdem kann man bei ihren Stillleben und Landschaften Einflüsse der Impressionisten entdecken und auch Ansätze zur Abstraktion. Bei ihren Blicken auf Stuttgart reduziert sie die Dächer zu geometrischen Formen – und ist die Nähe zu Paul Cézanne mitunter unübersehbar. Die Bietigheimer Altstadt bringt sie extrem verschachtelt, verzerrt und windschief ins Bild, in den Landschaften nutzt sie dagegen freie, schnellere Striche.

Sie malt Stillleben, sei es von Quitten oder krumm gewachsenen Gurken und Kürbissen – und mogelt immer wieder beiläufige, verspielte Details ein, hier ein kleines Häschen, das fast surreal auf dem Tisch steht, dort ein Tierchen auf einer Streichholzschachtel. So, wie Haarburger bemüht ist, etwa den Faltenwurf eines Handtuchs kunstvoll auszuformulieren oder die Schatten der Objekte präzise einzufangen, verrät sie doch ihre Nähe zum Realismus.

Die Spielsachen führen ein kesses Eigenlegen

Am schönsten sind Alice Haarburgers Puppenstillleben, die sie für ihre Nichten und Neffen malte. Da tauchen Gnome, Enten auf Rollen, kess schielende Puppen und dickbäuchige Clowns auf, die nur für den Moment des Malens zu posieren und stillzustehen scheinen – als ob sie darauf warteten, alsbald wieder unbeobachtet ihren Schabernack treiben zu können.

Alice Haarburger hat auch einige starke Porträts geschaffen. Ein Selbstbildnis von 1940 zeigt sie als ernste, selbstbewusste, aber auch müde wirkende Frau. Die Lebensbedingungen haben sich längst erschwert für sie. 1937 wurde bereits der väterliche Betrieb und ein Jahr später das Wohnhaus der Familie in der Danneckerstraße zwangsenteignet, weshalb Haarburger mit ihrer Mutter in den Stuttgarter Osten gezogen ist. Wie alle jüdischen Künstler darf sie nicht mehr ausstellen und nimmt fortan nur noch an den Ausstellungen der Stuttgarter Jüdischen Kunstgemeinschaft teil – bis sie 1941 ihren Deportationserlass erhält und vom Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg nach Lettland deportiert wird.