Über Versuche mit dem Digitalfunk sind die Rettungskräfte im Land bisher nicht hinausgekommen. Foto: Gottfried Stoppel, StZ

Der Digitalfunk für alle Rettungskräfte war mal eine schöne Utopie. Bis heute scheitert sie an einem ganzen Bündel von Fehleinschätzungen und Vorbehalten.

Stuttgart - Digitalfunk, schon das Wort macht Hans-Frieder Eberhardt gereizt. „Unwort des Jahrzehnts“ nennt er es. Seit Jahren laufe er zur Kommunalpolitik und frage, wann der moderne Kommunikationsstandard endlich komme, so wie seit Jahren versprochen. „Wenn Sie zwei Fragen stellen, kriegen Sie drei Antworten“, zürnt der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Giengen im Kreis Heidenheim. Weil nichts geht, können die 149 Aktiven keine Löschhilfe mehr im benachbarten Bayern leisten. „Die Bayern haben schon Digitalfunk“, sagt Eberhardt. Seitdem verstehen sich die Kollegen bei Einsätzen untereinander nicht mehr.

Wie dem Feuerwehrkommandanten auf der Ostalb geht es vielen Brandbekämpfern im Südwesten. Sie bekommen keinen Digitalfunk und verstehen kaum, weshalb. Dabei reichen die Planungen schon rund 20 Jahre zurück. Zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 sollten Polizei und Rettungskräfte vollständig damit ausgerüstet sein. Aber nur die Landespolizei ist 2013 komplett ins Netz der Zukunft gewechselt.

Ein Sprechfunk ohne Störungseinflüsse, rauschfrei, stabil und abhörsicher, das verspricht die Technik. Polizeikräfte können sich der Vision zufolge blitzschnell mit dem Technischen Hilfswerk, dem Roten Kreuz oder der Feuerwehr austauschen, und natürlich auch mit der Bundespolizei, die ebenfalls schon im Digitalnetz unterwegs ist. Je nach Einsatz lassen sich Gruppen bilden, so dass das Netz niemals komplett blockiert wird, wie es im Analogzeitalter zum Beispiel während einer Alarmierungsphase noch häufig der Fall ist. Rettungskräfte, die selber in Schwierigkeiten geraten, drücken einen Notknopf am Sprechgerät; über ein GPS-Signal werden sie von der Leitstelle aus zielgenau geortet.

An den vielen Bergen und Tälern liegt es nicht

Was sich in Stadtstaaten wie Hamburg verwirklichen ließ, ist im Flächenland Baden-Württemberg bisher nicht zu schaffen. An der Topografie liegt es nicht, mehr als 600 neue Sendemasten sind längst gebaut. Vielmehr geht es um technische Schwierigkeiten, Geld und lokales Anspruchsdenken. Das Land hat einen Großteil der Umrüstkosten den Betreibern der aktuell 37 südwestdeutschen Leitstellen aufgebürdet. Das sind die Landkreise und das Deutsche Rote Kreuz, das wiederum von der Einsichtsfähigkeit der Krankenkassen abhängig ist. Offenbar wurde seitens des Landes von Anfang an mit geschönten Zahlen operiert. 400 Millionen Euro waren noch im Doppelhaushalt 2005/2006 für die Gesamtumrüstung notiert. 2012 korrigierte die Landesregierung die voraussichtlichen Kosten auf 572 Millionen Euro. Dann griff der Rechnungshof zum Stift und kam zu dem Ergebnis, das Land müsse bis zum Jahr 2021 mindestens 637 Millionen Euro aufwenden. Ab 2022, so die Finanzprüfer, müsse mit jährlichen Folgekosten von rund 50 Millionen Euro gerechnet werden. Von Anfang an, so die Kritik, seien die Projektkosten bewusst „kleingerechnet“ worden.

Viele Zahler, viele Bedenken

Die geharnischen Kostensteigerungen unterminieren das vom Land ausgerufene Prinzip der lokalen Mitverantwortung. Der anfängliche Begeisterungsschwung ist weitgehend dahin. Keine einzige südwestdeutsche Rettungsorganisation hängt bis heute am Digitalnetz. „Wir leiden darunter, dass wir 38 Leitstellenbetreiber haben“, sagt Hermann Schröder, Abteilungsleiter Bevölkerungsschutz und Krisenmanagement im Innenministerium und bis zum Koalitionswechsel noch Landesbranddirektor. „Die einzelnen Träger entscheiden, wann sie ans Netz wollen.“ Es reiche ja nicht, den Einsatzkräften neue Sprechfunkgeräte zu geben. Vielmehr müssten die Leitstellen komplett neu verdrahtet und ausgerüstet werden, einschließlich der Telefonanlage. „Im Prinzip läuft’s drauf raus, dass alles rausgerissen werden muss“, so Schröder. Davor scheuten vor allem Landkreise zurück, deren Kommunikationstechnik noch relativ neu sei. Und: Überall täten sich „Schnittstellenprobleme“ auf, weil die Leitstellen in mehrere unterschiedliche Softwarelandschaften eingebettet seien.

So ist die aktuelle Digitaltechnik beispielsweise nicht in der Lage, das Eintreffen eines Rettungsfahrzeugs am Einsatzort automatisiert per Statusmeldung zu „quittieren“. Das zum Beispiel ist aber ein Leistungsmerkmal, auf das vom DRK eisern beharrt wird. Schon jetzt, im Analogzeitalter, bekämen Rettungsfahrer Textmeldungen auf ein Display im Fahrzeug geschickt, sagt Udo Bangerter, Sprecher des DRK-Landesverbandes Baden-Württemberg. Missverständliche Dialoge im Funkverkehr werden so vermieden, ebenso gefährliche Debatten während Eilfahrten mit Sondersignal. „Wir sind jetzt schon kommunikativ gut aufgestellt“, sagt Bangerter. „Wir können nicht hinter den Standard zurück, der seit vielen Jahren läuft.“ Bei rund 750 000 Einsätzen jährlich dürfe es keine blinden Stellen im System geben und keine Phase der Experimente.

Die Tücken stecken oft in den Details

Laut dem Ministeriellen Schröder wird derzeit an einer Softwarelösung gearbeitet, die das Problem der automatisierten Ankunftsmeldung bei Einsätzen behebt. Noch dieses Jahr, so seine Hoffnung, könnten zumindest die am weitesten modernisierten Integrierten Leitstellen in Böblingen, Ravensburg und im Rems-Murr-Kreis in den Digitalfunk einsteigen.

Die Feuerwehren im Land, die nur einen Bruchteil der Einsätze des DRK fahren, ebenso die Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks müssen also warten, bis die Bedürfnisse von Krankentransportfahrern auf der technischen Ebene erfüllt sind. Eine Reihe von Kommandanten will nicht einmal das. So haben sich die Berufsfeuerwehren von Mannheim, Heidelberg und Baden-Baden der Verschmelzung mit integrierten – also innerhalb der Rettungsorganisationen zusammengeführten – Rettungsleiststellen wegen Sicherheitsbedenken verweigert. Aus Reihen der baden-württembergischen Polizei, die das Digitalsystem maßgeblich aufgebaut und schrittweise getestet hat, heißt es spöttisch, da gebe es wohl auch ein „Generationenproblem“. Beim Roten Kreuz wiederum wird hinter vorgehaltener Hand gelästert, die Polizei habe den Umstieg bis 2013 nur deshalb geschafft, weil sie vergleichsweise „simple Ansprüche“ an ihre Kommunikation gehabt habe. Fehlerhäufungen bei der Umstellung hätten zudem leicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden können.

Es wird schon über die Revolution der Revolution nachgedacht

Längst mehren sich die Zweifel, ob es jemals gelingen wird, alle Retter im Land digital zu vernetzen und auf denselben technischen Stand zu bringen. Aktuell ist noch nicht einmal heraus, welche Endgeräte zum Beispiel die Feuerwehren bestellen werden. Die Wahl kann, je nach dem Willen der Kommunen, zwischen dem englischen Hersteller Sepura (wird von der Polizei verwendet) oder dem US-Hersteller Motorola (Lieferant der Bundespolizei) getroffen werden. Das DRK lässt verlauten, man wolle sich für ein Gerät entscheiden. Welches, ist aber immer noch nicht bekannt.

Beim Innenministerium wird schon an der Revolution der Revolution gearbeitet. Krisenmanager Schröder nennt sie „Leitstelle Technik Baden-Württemberg“. Darunter versteht er einen Zentralserver, an den die Leitstellen andocken können. „Die Leitstellentechnik wird uns in den nächsten Jahren immer mehr Probleme machen“, prognostiziert er. Die Digitalsoftware benötige schließlich immer wieder Updates. Ab 2018 müsse gemäß EU-Verordnung außerdem das Fahrzeug-Notrufsystem „eCall“ installiert werden, im selben Jahr steige die Telekom ganz aus der Analog- und ISDN-Technik aus und in die Internettelefonie ein. Zermürbende Abstimmungsprozesse stünden damit weiterhin bevor. Davor graust auch dem DRK. Es stelle sich die Frage, ob künftige „Software-Ausrüstungsleistungen“ sogar europaweit ausgeschrieben werden müssten, warnt Sprecher Udo Bangerter. Das DRK sieht eine Lösung nur in einer deutlichen Reduzierung der Leitstellen – von 38 auf höchstens 20. So steht es in einem internen Positionspapier.

Hoffen auf eine neue Lenkungsgruppe

Das Innenministerium plant für die Zentralisierung der Kommunikation im Rettungswesen aktuell den Aufbau einer „Lenkungsgruppe“, bestehend aus Vertretern des DRK, der Krankenkassen, des Feuerwehrverbandes, des Städte- und Landkreistages. Die Maxime der Gespräche heißt nach Hermann Schröder: „Wir wollen keine Verlierer.“ Während der jetzt beginnenden neuen Legislatur sollen Ergebnisse her. Eines glaubt DRK-Vertreter Bangerter schon vorweg nehmen zu können. „Billiger wird es sicher nicht werden.“

Ein Doppelsystem soll die Sicherheit für S21 gewährleisten

Doppelnetz

Die Unsicherheit, die landesweit in Bezug auf die Einführung des Digitalfunks herrscht, hat auch Auswirkungen auf die ICE-Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Ein Sprecher der Bahn bestätigte Informationen unserer Zeitung, wonach entlang der knapp 60 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke sowohl ein Digital- als auch ein Analogfunksystem gebaut wird.

Vorgabe

Laut dem Sprecher handelt es sich um eine rein baden-württembergische Bauvorschrift, die für alle Schienenvorhaben gelte. Die Neubaustrecke soll Ende 2021 in Betrieb gehen. Sie führt gut zur Hälfte durch Tunnel. Völlig unklar ist derzeit, ob Rettungskräfte nach 2021 bei Einsätzen übergangsweise sowohl Digital- als auch Analogfunktechnik am Körper und in Fahrzeugen mitführen müssen.

Eingeständnis

Im Juni 2015 hat die Landesregierung gegenüber dem Landtag Schwierigkeiten mit dem digitalen Behördenfunk eingeräumt (Drucksache 15/7074). So hieß es, die Probleme bei IT-Sicherheit, Geheim- und Sabotageschutz sowie Objektversorgung (auch Behördendienststellen müssen umgerüstet werden) seien „teilweise deutlich unterschätzt worden“. Es fehle Personal.