Die US-Fernsehserie "Pan Am" mit Christina Ricci (Foto) stellt wie auch "Mad Men" oder "The Playboy Club" den Charme der 1960er Jahre aus. Foto: ABC Television Network

Angriff der Vergangenheit auf den Rest der Zeit: Über die Rückwärtsbewegung bei Pop, Film und Fernsehen.

Selbst der modernste Mann der Welt war ein Ewiggestriger. Steve Jobs, dem wir iPod, iPhone und iPad zu verdanken haben, kam popmusikalisch nie wirklich im 21. Jahrhundert an. Sein Biograf Walter Isaacson jedenfalls hat herausgefunden, dass Jobs, der im Oktober 2011 starb, bei seinen Lieblingsalben einen altmodischen Geschmack offenbarte. Auf Steve Jobs’ iPod befanden sich 21 Bob-Dylan-Alben, er hörte die Beatles, die Stones, Aretha Franklin, B. B. King oder Jimi Hendrix. Zeitgenössische Popmusik machte nicht einmal ein Viertel seiner digitalen Musiksammlung aus. Damit ist Jobs ein typischer Pophörer des 21. Jahrhunderts.

Schwelgen in souligen Soundinszenierungen

Nie zuvor hat sich das Heute so sehr nach Gestern angehört wie seit der Jahrtausendwende. Längst werden bei Onlinemusikdiensten wie iTunes mit dem sogenannten Backkatalog, also mit den alten Beständen der Plattenfirmen, erheblich größere Umsätze erzielt als mit Neuveröffentlichungen. Und selbst neue Musik, wie die Erfolgsalben von Amy Winehouse oder Adele, schwelgt genussvoll und hemmungslos in souligen Soundinszenierungen, die auch aus den 1960ern stammen könnten. Rückwärts ist das neue Vorwärts der Popkultur.

Simon Reynolds hat ein kluges Buch über dieses Phänomen geschrieben. Es heißt „Retromania“, ist 500 Seiten dick und bisher nur auf Englisch bei Faber & Faber erschienen. Reynolds analysiert treffend die Sucht der aktuellen Popkultur, in der eigenen Vergangenheit zu wühlen: „Frühere Zeitalter waren zwar auch besessen von ihren eigenen Altertümern“, schreibt er, „von der Renaissance und ihrer Verehrung des römischen und griechischen Klassizismus bis zur Gotik, die das Mittelalter wieder heraufbeschwor. Aber es hat noch nie eine Gesellschaft in der menschlichen Geschichte gegeben, die so besessen von den kulturellen Artefakten ihrer jüngsten Vergangenheit war.“

TV-Serien verwandeln sich in Sixties-Modeschauen

Obwohl sich der britische Kulturjournalist in seinem Buch fast ausschließlich mit Popmusik befasst, lässt sich sein Ansatz problemlos auf andere Phänomen der Popkultur ausweiten – zum Beispiel aufs Fernsehen oder Kino. TV-Serien wie „Mad Men“, „Pan Am“ oder „The Playboy Club“ verwandeln sich ebenso in Sixties-Modeschauen wie Spielfilme wie „X-Men: Erste Entscheidung“ oder „The Help“. Und auch der dritte „Men in Black“-Film, der am 24. Mai ins Kino kommen soll, wird sich trend- und modebewusst in die 1960er verirren.

Als ein Fest der Nostalgie erwies sich zudem die diesjährige Oscar-Zeremonie. Die Filme, die die meisten Preise abräumten, waren „The Artist“ und „Hugo Cabret“ – zwei Arbeiten, denen die Sehnsucht nach dem Kino früherer Zeiten gemeinsam ist.

Der eine setzt der Kunst des Stummfilms allgemein ein Denkmal, der andere dem französischen Filmpionier George Méliès, der mit Werken wie „Die Reise zum Mond“ (1902) auch ohne Farbe, Ton und 3-D-Effekte unglaubliche Science-Fiction-Fantasien auf die Leinwand brachte. Genau diese visionäre Begabung, die Méliès auszeichnete, sei im 21. Jahrhundert verloren gegangen, beklagt Reynolds.

Rückwärtsgang ist kein Wunder

Mit unserer Neigung, uns nur an kulturellen Großwerken der Vergangenheit zu orientieren, sei uns auch die Fähigkeit abhandengekommen, uns Fortschritt vorzustellen und innovative Ideen zu entwickeln. Tatsächlich fällt auf, dass die meisten neueren Science-Fiction-Filme nicht an technische Weiterentwicklungen glauben, sondern sich als Dystopien erweisen, als Untergangsszenarien, als Ausblicke auf einen kulturellen Verfall – von „Wall-E“ über „The Road“ bis zu „I Am Legend“. Oder Filmemacher flüchten sich in die Geborgenheit einer Steampunk-Ästhetik, reisen für Zukunftsfantasien in die Vergangenheit, bilden technisch-futuristische Errungenschaften im Look des Viktorianischen Zeitalters ab.

Wenn früher alles besser war und dem Pop offensichtlich die Zukunftsperspektive fehlt, wundert es nicht, dass der Rückwärtsgang eingelegt wird. Anstatt nach neuen mutigen Ansätzen zu suchen, stürzen sich Plattenfirmen lieber in die Veröffentlichung von Boxsets mit Aufnahmen der Avantgardisten früherer Zeiten – von Pink Floyd bis Jimi Hendrix. Und wenn gar nichts mehr hilft, wird Pop museal verarbeitet: Kraftwerk inszenieren zum Beispiel zwischen dem 10. und 17. April jeden Tag im Museum of Modern Art in New York eines ihrer Alben als Zukunftserinnerungen.

Das 21. Jahrhundert käut alte Trends wieder

„Besonders seltsam an den 2000er Jahren ist, wie der überkandidelte Retrosound aus den 1980ern gegen die wiederbelebte Ernsthaftigkeit der Musik aus den 1960ern antritt, um die Herzen der hippen Jugend zu erobern“, schreibt Reynolds. Und nicht nur Mainstream-Stars wie Adele oder Amy Winehouse gehen in der Retro-Ästhetik auf.

Auch das Strokes-Album „Is This It?“, das viele Kritiker zum besten Album des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts kürten, ist letztlich auch nur eine (gut gemachte) Retrorockscheibe. Reynolds’ Buch fasst zusammen, was eigentlich offensichtlich ist, aber trotzdem lange übersehen wurde: dass das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eigentlich nicht viel mehr bot als ein Wiederkäuens alter Trends.

Kreative Auseinandersetzung mit dem popkulturellen Erbe

Woran dies liegt, vermag auch Simon Reynolds in „Retromania“ nicht wirklich zu beantworten. Er nähert sich in seinem Buch dieser Tendenz phänomenologisch und begenügt sich bei der Ursachenforschung mit Spekulationen und fragt: „Ist die Nostalgie schuld daran, dass unsere Kultur die Fähigkeit verloren hat, sich weiterzuentwickeln? Oder sind wir genau deshalb nostalgisch, weil unser Kultur aufgehört hat, sich vorwärts zu bewegen, und wir deshalb zwanghaft zurückblicken zu bedeutsameren und dynamischeren Zeiten?“ Eine Antwort bleibt Reynolds schuldig.

Zwar muss der Blick zurück nicht zwangsweise einer ästhetischen Bankrotterklärung gleichkommen. Jenseits von wertkonservativen Oldieshows und lieblosen Remakes fand und findet eine kreative Auseinandersetzung mit dem popkulturellen Erbe statt, doch das 21. Jahrhundert wartet noch immer auf die erste große, neue Idee. „I still believe the future is out there“, schreibt Reynolds am Ende seines Buchs: Ich glaube immer noch daran, dass es irgendwo da draußen eine Zukunft gibt.