Das geschlossene Retabel mit der Kreuzigung, dem Hl. Sebastian (li.) und dem Hl. Antonius sowie der Beweinung Christi in der Predella (unten) Foto: Musée Unterlinden, Colmar

In einer mehrjährigen Restaurierungskampagne wird der Isenheimer Altar in Colmar vom Schmutz und Staub der Jahrhunderte befreit. Die Besucher des Musée Unterlinden können den Restauratoren dabei zusehen.

Colmar - Der Staub ist unübersehbar. In dicken Schichten lagert er auf den Knien des hl. Antonius, überzieht sein goldenes Gewand, das Schweinchen zu seinen Füßen und das geschnitzte Rankenwerk über dem Haupt der Figur mit einem Grauschleier, den man selbst aus einigem Abstand erspäht. Hier müsste mal dringend einer sauber machen. Aber bei einem Kunstwerk, mehr noch: einem Hauptwerk der deutschen Spätgotik wie der europäischen Kunstgeschichte überhaupt, verbietet es sich, mal eben mit einem feuchten Lappen drüberzuwischen.

Kein Zweifel, der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald und Niklaus von Hagenau, von dem der skulpturale Mittelschrein des Retabels stammt, ist stark restaurierungsbedürftig. Doch wenn an ein Kunstwerk von diesem Kaliber Hand angelegt werden soll, dann ist das eine Staatsaffäre – nicht nur, weil das Geld, schätzungsweise 1,2 Millionen Euro, im zentralistisch organisierten Frankreich vom Staat kommt, sondern auch, weil die in diesem Jahr beginnende Restaurierungskampagne von einem vielköpfigen Expertengeschwader begleitet wird, nicht mitgezählt die 18 Restauratoren, die in drei Gruppen drei bis vier Jahre an dem Altar arbeiten werden.

Und ohne Medienwirbel geht es natürlich auch nicht. Rund fünfzig Journalisten aus Frankreich und Deutschland waren der Einladung des Musée Unterlinden in Colmar, seit 1853 Heimat des kostbaren Werkes, gefolgt, um den Erläuterungen der Direktorin Pantxika De Paepe und der Leiterin des Centre de Recherche et de Restauration des Musées de France, Isabelle Pallot-Frossart, sowie des Präsidenten der Societé Schongauer und der Vorsitzenden der Kulturbehörde der Region Grand-Est, gefolgt von den Chefrestauratoren, zu lauschen. Eine Staatsaffäre, wie gesagt.

Transparenz hat oberste Priorität

Das sahen die französischen Medien schon so, als die Restaurierung des Isenheimer Altars 2011 in einem ersten Anlauf in Angriff genommen wurde – damals lag die Betonung in der Presse allerdings mehr auf dem Wort „Affäre“. Ein Online-Magazin für Kunst hatte Alarm geschlagen, weil es der Meinung war, dass das Projekt viel zu schnell und auf wissenschaftlich ungenügend abgesicherter Basis abgewickelt würde. Zwar gab der betreffende Journalist nun freimütig zu, von Restaurierungen nicht viel zu verstehen und mit seiner Kritik seinerzeit eher einem Gefühl als fachlich fundierten Bedenken gefolgt zu sein. Immerhin aber schaffte er es, in der Öffentlichkeit so viel Antistimmung zu erzeugen, dass die Kampagne abgebrochen werden musste. „Es war“, sagt der Restaurator Anthony Pontabry heute rückblickend, „kein technisches, sondern ein Kommunikationsproblem.“

Doch die Beteiligten haben seitdem dazugelernt. Transparenz hat nun oberste Priorität bei allem, was Museum, Comité scientifique und Experten unternehmen. So sollen öffentliche Fachvorträge die verschiedenen Restaurierungsetappen begleiten, während jeder Schritt fotografisch genauestens dokumentiert wird und die Restauratoren grundsätzlich in Doppelbesetzung zu Werke gehen, um die Fehlerkontrolle zu erhöhen. Viele Arbeiten werden sich zudem direkt unter den Augen der Besucher vollziehen. Das Stahlgerüst, das die Altartafeln seit der Sanierung des Unterlinden-Museums 2015 einfasst, lässt sich absenken, so dass die oberen Partien für die Restauratoren leichter erreichbar und für das Publikum besser sichtbar sind. Einige Teile des Retabels werden zwar auch abgebaut und in Paris behandelt, aber komplett entzogen ist Grünewalds Opus magnum der Öffentlichkeit zu keinem Zeitpunkt. Ein so bedeutendes Kunstwerk wie den Isenheimer Altar kann man nicht einfach für mehrere Jahre in der Werkstatt verschwinden lassen, das ist Pantxika De Paepe und ihren Mitstreitern klar. Grünewald und Hagenau sind für die Region nicht zuletzt auch Wirtschaftsfaktoren, ziehen sie doch Jahr für Jahr Touristen aus aller Welt an. „Wir hoffen, dass das Publikum an diesem kulturellen Ereignis regen Anteil nimmt“, sagt die Museumschefin.

Überragender Kolorist

Revolutionäre neue Erkenntnisse erwarten die Kunsthistoriker von der Generalrestaurierung des Colmarer Spitzenwerks jedoch nicht – nichts, was sich etwa mit dem grundstürzenden Wandel des Michelangelo-Bilds nach der Säuberung der Sixtinischen Kapelle nur annähernd vergleichen ließe. Nach deren 1994 abgeschlossener Restaurierung waren viele von den „Bonbonfarben“ geschockt, die unter Dreckschichten und Kerzenruß zum Vorschein gekommen waren und ganz und gar nicht zu dem „Maler des Zwielichts“ passten, als der Michelangelo bis dahin der Zunft gegolten hatte. Wenn der Deutsche und der Italiener überhaupt etwas gemeinsam haben, dann dass es sich bei beiden um überragende Koloristen handelt. Bei Grünewald ist das – im Gegensatz zum Vorrestaurierungs-Michelangelo – jedoch bekannt. Worum es geht, ist, ihm wieder zu seiner ursprünglichen Brillanz zu verhelfen.

Eine Ahnung von der Leuchtkraft der Farben gibt die Tafel mit der Versuchung des hl. Antonius, die 2011 bereits gereinigt wurde. Gegen das satte Blau seines Mantels und das giftige Gelb und Grün der Monster, die den Schutzpatron der Kranken und Armen piesacken, wirken die übrigen Bilder trüber, von nachgedunkelten Firnisschichten und dem Schmutz der Jahrhunderte um ihren Farbenglanz gebracht. So wird vermutet, dass der Hintergrund der Kreuzigung – mit dem grausam gemarterten, von Wunden und Dornen übersäten Leib Christi die ikonische Isenheimer Tafel schlechthin – nach der Reinigung etwas blauer und heller erscheint. Die Kunstwissenschaft hält es für möglich, dass der Himmel der Passionsszene nachträglich geschwärzt wurde, um die Dramatik des Geschehens auf die Spitze zu treiben. In der „Verkündigung“ hat die Oxidation der Kupferanteile im grünen Vorhang hinter Maria und dem gelben Gewand des Engels zu chromatischen Veränderungen geführt, aber „Gelb ist eine empfindliche Farbe“, erklärt Anthony Pontabry, daher müssten in diese Partien mit äußerster Vorsicht eingegriffen werden, wenn überhaupt.

Ein harmonisches Gesamtbild

Viel zu tun haben auch die Restauratoren von Niklaus von Hagenaus Schnitzbildwerken auf der innersten Tafel, der sogenannten zweiten Wandlung. Mit bloßem Auge für den Besucher nicht zu erkennen, zeigen sich Niklaus von Hagenaus Holzfiguren in Nahaufnahme in schlechterem Zustand als die elf Tafelbilder, deren Malschicht weitgehend intakt ist. Man sieht, wie die Farbe auf den Gesichtern und Händen der Heiligen und der um Christus gescharten Apostel in der Predella an vielen Stellen abblättert, in kleinen Stückchen abgeplatzt oder unter den Staubablagerungen fleckig geworden ist. Auch der neuzeitliche Altarkasten, der seit dem 19. Jahrhundert das in den Wirren der Französischen Revolution verloren gegangene Original ersetzt, ist reif für eine Auffrischung.

Am Ende, sagt Pantxika De Paepe, komme es bei der Restaurierung darauf an, ein harmonisches Gesamtbild dieses monumentalen Polyptychons zu erzeugen, des „Gesamtkunstwerks“, wie sie es nennt. Es gilt, mehr noch als heute, die Kühnheit des Künstlers erlebbar zu machen, der es – in den Worten des französischen Schriftstellers und Grünewald-Verehrers Joris-Karls Huysmans – „als Erster gewagt hat, mit der Armut irdischer Farben die Erscheinung des göttlichen Wesens darzustellen“.