Der Whistleblower Edward Snowden ist zugeschaltet: Der Republica-Gründer Markus Beckedahl (rechts) organisiert seit zehn Jahren die Netzkonferenz. Foto: republica Montage: Schlösser

8000 Menschen treffen sich derzeit in Berlin bei der Internetkonferenz Republica. Einst als überschaubare Blogger-Konferenz gestartet, gilt sie inzwischen als eines der wichtigsten Events zu digitalen Themen

Berlin - Wenn Herr Büttner mit Fridolin seine Mittagsrunde durch den Park dreht, kommt er immer hier am alten Berliner Postbahnhof vorbei. Fridolin hebt dann das Bein an einem jungen Baum, und Herr Büttner schaut durch die Rauten des Maschendrahtzauns. Das hier ist eine dieser Stellen, wo das alte zum neuen Berlin wird. Herr Büttner war schon immer hier, der Postbahnhof erst in Betrieb und nach der Wende stillgelegt, das Bahngelände eine Brache. Jetzt heißt das alles Station, wird auf Englisch ausgesprochen und ist eine Location. Modemessen finden hier statt, Konferenzen, Produktpräsentationen.

Jenseits der Maschen liegt ein frisch gepflasterter Hof, Typ Raucherzone, direkt vor dem alten Klinkerbau. Meistens passiert hier nichts, manchmal stehen ein paar Leute da, aber heute ist alles anders. Elektronische Musik kommt aus Lautsprechern. Überall junge Leute. Manche sitzen in blassblauen Liegestühlen, andere liegen rauchend auf einem Lager aus schwarzen Matratzen. Einige sprechen miteinander. Die meisten aber senken ihre Köpfe übers Display ihres Endgeräts.

NET oder TEN – die Republica wird zehn

Herr Büttner kennt das, nicht nur von seiner Enkelin Laura, die ist zehn Jahre alt, und ihr i-Phone scheint an ihrer linken Hand festgetackert. Seit er selbst ein Smartphone hat, greift seine Hand immer wieder nach dem Gerät in seiner Gürteltasche. „Man schaut immer öfter rein, als man eigentlich wollte.“ Herr Büttner ist 67 Jahre alt, er ist bei Facebook und seit Kurzem bei Whatsapp, er postet Fotos von Fridolin und Sprüche, wenn Hertha spielt, und er sagt, natürlich überlege er sich, was da mit seinen Daten passiere. Selbstverständlich kennt er Edward Snowden. Herr Büttner sagt, er sei sich nicht sicher, ob das, was der Amerikaner getan habe, die Rettung sei oder Hochverrat. Geändert habe das alles aber wenig. „Das Internet ist eine praktische Sache“, sagt er. „Mein Leben hat es nicht so sehr verändert, aber für die kommenden Generationen wird alles anders.“

Von der Republica hat Herr Büttner noch nie gehört. Sie ist das, was gerade jenseits des Maschendrahtzauns passiert. 8000 Menschen verbringen hier drei Tage miteinander. Das Programm ist so voll, dass die Macher sich für einen altmodischen Faltplan auf Papier entschieden haben: Mehr als 750 Redner aus 60 Ländern sprechen auf 17 Bühnen zu allen möglichen Themen. Gemein ist den Themen eins: Sie haben irgendwie mit dem Netz zu tun. Das englische Wort NET ist aber nicht nur deshalb in glitzernd-silbernen Großbuchstaben auf Wänden und T-Shirts zu lesen. Von rechts nach links betrachtet, verrät es, dass es hier was zu feiern gibt: TEN – die Republica wird zehn. Manche nennen das hier die wichtigste Internetkonferenz Europas.

Beim ersten Treffen 2007 kamen gerade mal 700 Leute

Geplant war das nie. „Wir wussten beim ersten Mal nicht mal, ob es eine zweite Ausgabe geben würde“, sagt Markus Beckedahl. Zusammen mit drei Freunden organisierte er 2007 das erste Treffen – es kamen etwa 700 Leute, die so wie er im Netz sehr aktiv waren und sich im wirklichen Leben austauschen wollten. Und das wollten über die Jahre immer mehr. Inzwischen bereiten fünf Leute ein ganzes Jahr lang hauptberuflich die Konferenz vor, in den Wochen vorher wächst der Stab auf zwei Dutzend. Da sind die Vorträge und Workshops schon lange kuratiert – das gehört zu den Besonderheiten der Messe: Jeder kann hier mitmachen, sich einbringen, mehr als 1000 Menschen haben sich dieses Jahr mit einem Programmpunkt beworben, dazu kommen einige wenige kommerzielle Aussteller. Es gibt viele Firmen, die sich hier gerne präsentieren würden, aber die Macher wollen keine Industriemesse sein, sondern ein Forum. „Wir machen immer noch eine Konferenz, auf die wir alle gerne gehen wollen.“

Dass viele in Deutschland Beckedahls Gesicht inzwischen kennen, hat nichts mit der Republica zu tun und doch auch wieder sehr viel: Beckedahl ist Blogger, also einer, der im Internet Texte zu bestimmten Themen für ein interessiertes Publikum veröffentlicht. Manche schreiben übers Essen, andere über Technik, Autos, Mode, Fantasyspiele, Fußball. Beckedahl schrieb immer über Netzpolitik. Manchmal interessiert sich die Justiz für solche Texte: Im Fall von Beckedahl war das vergangenes Jahr der Generalbundesanwalt. Ermittelt wurde wegen Landesverrats gegen die Plattform netzpolitik.org. Der Grund: Die Blogger hatten geheime Dokumente zu Plänen für die Überwachung des Internets ins Netz gestellt. So, dass sie jeder lesen konnte.

Ohne Netz könnte ein Einzelner nie solch eine Wirkung entfalten

Der Fall ist einer, der die Kraft des Internets zeigt – und gleichzeitig den Wunsch verdeutlicht, den jedes Staatssystem nach Kontrolle entwickelt. Ohne Netz könnte ein Einzelner nie solch eine Wirkung entfalten. Es gibt andere Beispiele dafür, wie gigantisch die Katapultwirkung des Internets auf gesellschaftliche Strömungen ist – und auf singuläre Ereignisse: der Arabische Frühling, Pegida, der Fall Boehmermann. Wenn man Beckedahl fragt, wie er Nicht-Nerds seine Republica erklärt, dann sagt er: „Es ist eine Gesellschaftskonferenz, die sich positiv kritisch mit dem Internet und seinen Auswirkungen beschäftigt.“

Wenn man von dem Raucherhof durch die Glastür ins Innere der Station tritt, wird es kühl, laut und dunkel. Es ist 13.30 Uhr am ersten Konferenztag, und der erste Höhepunkt ist nah. Vor dem riesigen Raum mit der Bühne 2 drängen sich Menschen, alle Sitzplätze, selbst am Boden, sind überfüllt, auch Stehplätze gibt es kaum noch.

Die Menge jubelt dem zugeschalteten Whistleblower Edward Snowden zu

Auf der Bühne, zumindest auf der Leinwand erwarten die Zuhörer ihren Helden: Edward Snowden. Blass und schmal wie immer erscheint dann das Gesicht des Whistleblowers, der im nicht selbst gewählten Exil in Moskau lebt, weil er in seiner amerikanischen Heimat sofort ins Gefängnis käme. Die Menge jubelt ihm zu, als er sagt: „Wer sagt, er habe keine Geheimnisse und brauche daher keine Privatsphäre im Internet, kann genauso gut sagen, er brauche keine Freiheit der Rede, weil er nichts zu sagen hat.“ Datenschutz, Netzneutralität, Informationsfreiheit, Bürgerrechte, das sind die Urthemen der Internetgemeinde, darum geht es bei der Republica. Redner, die vor den Gefahren warnen, wie der Juraprofessor Eben Moglen, sprechen die Befürchtungen der Gemeinde aus – er nennt das Internet ein Netz des Despotismus und der Überwachung.

Ein Stockwerk über Edward Snowden spielen solche Fragen eine untergeordnete Rolle. Hier geht es um Trends. Und um den Kick des Teilens. Jeder, der bei Facebook oder Twitter ist, weiß um die Streicheleinheiten der Like-Daumen und Retweets. Aber Snapchat, das ist für Fortgeschrittene. Vorne würde Joschi Arntzen stehen, wenn er das für nötig hielte. Aber wozu nach Berlin reisen, wenn es Skype gibt. Joschi ist 14 und geht zur Schule. Für ihn gehört Snapchat zum Alltag. Aber selbst bei den harten Internetnutzern gibt es jenseits des Teenageralters viele, die diese App nicht mehr verstehen.

Der Markt ändert sich, bevor man einmal Snapchat sagen kann

Einfach gesagt, ist Snapchat ein Messenger-Dienst, bei dem Menschen einander Fotos und vor allem Videos zuschicken, welche die Eigenschaft haben, sich nach kurzer Zeit zu entmaterialisieren. Die Erfolgszahlen der App gehen durch die Decke, sie hat mehr als 100 Millionen Nutzer, die etwa sieben Milliarden Videos am Tag teilen, der Marktwert wird auf knapp 20 Milliarden US-Dollar beziffert. Der Nutzen? Gute Frage. Vor der Leinwand mit Joschis Skype-Konterfei stehen Hunderte Erwachsene, von denen nicht wenige mit dem Internet ihr Geld verdienen. Sie haben Angst, dass bei Snapchat der Punkt erreicht ist, bei dem sie an eine Entwicklung nicht mehr anschließen können. Der Markt ändert sich, bevor man einmal Snapchat sagen kann. Und die digitale Welt ist eben ein riesiges Feld von Chancen, in dem man sein Spiel machen und Geld verdienen kann.

Vor dem Vortragsraum hängt eine Schaukel von der Decke herab. Darauf sitzt ein Mann, nicht mehr ganz jung, in Popelinehosen und Sneakers, er holt Schwung, schaut nach oben, nach unten, holt Schwung. Roman ist gerade ganz woanders. Das liegt an dem großen schwarzen Kasten vor seinen Augen. Die Virtual-Reality-Brille hat ihn in eine andere Welt versetzt. Je mehr man schaukelt, desto mehr hebt man ab. Roman kommt aus Wien und hat eine Werbeagentur. Er ist bei der Republica, um neue Entwicklungen aufzuspüren. Die Sache mit der Virtual Reality ist so eine. Was daraus wird? „Ich kam mir gerade vor wie auf dem Holodeck bei ‚Star Wars‘“, sagt er. „Das will doch jeder.“

Das Credo: die neuen Technologien dürfen nicht gegen den Einzelnen verwendet werden

Bei der Republica trifft sich ein Publikum, das fasziniert ist von neuen Technologien. Mitarbeiter von Google verteilen Pappbrillenkästen, in die die Nutzer ihre Handys schieben können. 3-D-Drucker zeigen ihre Kunst, um die Ecke geht es um Autos, die autonom fahren. Natürlich, sagt Markus Beckedahl in seinem Eröffnungsvortrag, wolle jeder neue Technologien nutzen, aber sie dürften nicht gegen den Einzelnen verwendet werden.

So ein Algorithmus zum Beispiel: Supertechnik. Aber wie ändert sich die Sicht des Einzelnen auf die Welt, wenn er viel Zeit bei Facebook verbringt und genau dieses Facebook ihm immer nur den kleinen Ausschnitt der Gesamtheit zeigt, den ein Algorithmus festlegt? Was macht das Leben in einer Filterblase aus uns? Wie verschiebt es unsere Wahrnehmung. Und was kann eine Gesellschaft tun, um nicht einigen wenigen privaten Spielern wie Mark Zuckerberg die Macht über Plattformen zu überlassen?

Es ist Abend, und der Hof wird voller. Die Sonne fällt schräg aufs Gras, es gibt Bier und Musik, und das Matratzenlager ist gemütlich. Die Generation Internet erhebt ihre Köpfe von den Displays und feiert. Durch die Maschen des Zauns öffnet sich der Blick in den Park. Unendliche Weiten. Analog ist auch mal ganz schön.